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Wer zur Quelle will, muss gegen den Strom schwimmen.
- Hermann Hesse -
Informationen über Depressionserkrankungen sind allgegenwärtig, spätestens seitdem sie durch Aufnahme in die Gruppe der „Volkserkrankungen“ geadelt wurden. Trotz der vielen Berichte in Zeitschriften, im Internet, Radio und Fernsehen oder einer unübersichtlichen Menge von Veröffentlichungen in der Fach- und Ratgeberliteratur hat sich am grundlegenden Unverständnis gegenüber der Erkrankung nichts geändert.
Ein Indiz dafür sind die vielen Bezeichnungen, mit denen eine Depression umschrieben wird. Für die meisten Krankheiten gibt es eindeutige Fachbezeichnungen, manchmal auch wenige begriffliche Differenzierungen, um beispielsweise bestimmte Formen nach Ursachen oder Symptomatik zu unterschieden. Ganz anders bei der Depression, wie die nachfolgenden Beispiele eindrucksvoll zeigen. Dabei handelt es sich nicht um eine vollständige Liste, denn immer wieder tauchen neue „Fachbegriffe“ auf. Die Bezeichnungen sind zum Teil missverständlich, unklar, mehrdeutig, strittig oder inhaltlich ähnlich:
Agitierte Depression, Altersdepression, Anaklitische Depression, Asaisonale Depression, Atypische Depression, Bipolare Depression, Chronisch‑depressive Störung, Depression, Depression mit somatischem Syndrom, Depressive Verstimmung, Double Depression, Dysphorie, Dysthymische Depression bzw. Dysthymie, Endogene Depression, Entlastungsdepression, Erschöpfungsdepression, Exogene Depression, Gehemmte Depression, Hochfunktionale Depression, Involutionsdepression, Klinische Depression, Larvierte Depression, Lichtmangeldepression, Major Depression, Manisch‑depressive Störung, Maskierte Depression, Melancholie, Melancholische Depression, Minor Depression, Monopolare Depression, Neurotische Depression, Organische Depression, Persistierende depressive Störung, Pharmakogene Depression, Phasische Depression, Postnatale Depression, Postpartale Stimmungskrise, Prämenstruelle Depression, Primäre Depression, Psychogene Depression, Psychoreaktive Depression, Psychotische Depression, Reaktive Depression, Rezividierende Depression, Saisonal abhängige Depression (SAD), Schwangerschaftsdepression, Schwermut, Sekundäre Depression, Smiling Depression, Somatisches Syndrom, Somatisierte Depression, Somatogene Depression, Spätdepression, Subklinische Depression, Symptomatische Depression, Therapieresistente Depression, Unipolare Depression, Vegetative Depression, Versteckte Depression, Winterdepression, Wochenbettdepression, Zyklothymia, Zyklothymische Depression, Zyklothymie.
Aber wie sieht es bei den Versuchen aus, die Erkrankung weltweit einheitlich zu kategorisieren? Gemäß der Fassung der internationalen statistischen Klassifikation ICD‑10 der Weltgesundheitsorganisation WHO aus dem Jahre 1990 werden mehrere Hauptdiagnosegruppen (F30 ‑ F34, F38 und F39) mit einigen Unterkategorien bei Affektiven Störungen unterschieden, zu denen auch die Depression zählt.
Unter Affekten wird ein Bündel von Gemütsregungen verstanden, die ein psychisch gesunder Mensch empfinden kann. Drei Symptomgruppen unterscheiden pathologisch gestörte Gefühlsregungen:
Die ICD-10-Klassifizierung unterscheidet sieben Kategorien affektiver Erkrankungen:
ICD-10 differenziert in den Gruppen F31, F32 und F33 vier Schweregrade, ohne diese exakt zu definieren oder Anhaltspunkte zur Abgrenzung zu benennen:
Die Dauer einer Erkrankung berücksichtigt ICD‑10 unsystematisch. Es werden die eigenständigen Kategorien F33 für eine rezidivierende (= wiederkehrende) Depression und F34 für eine anhaltende Affektstörung verwendet, letztere wird als Dysthymie bezeichnet. Für die Dysthymie gibt es keine Differenzierung unterschiedlicher Schweregrade.
Die ICD‑10‑Klassifizierung macht keine Aussagen zu den Krankheitsursachen. Mittlerweile gibt es eine Überarbeitung, die als ICD‑11 im Jahre 2022 in Kraft trat, aber gegenüber der alten Version keine wesentlichen Änderungen aufweist. Die internationale Klassifizierung ist ein Versuch, die Erkrankung besser definieren und abgrenzen zu können, der aber wegen vieler systematischer Unzulänglichkeiten nicht gelungen ist und immer wieder kritisiert wird. Sowohl die ICD‑10 als auch ihre Nachfolgerin ICD‑11 sind daher wenig hilfreich.
Im Schwerpunkt geht es auf diesen Webseiten um die monopolare bzw. unipolare Depression, die von der Bipolaren Depression (F31 nach ICD‑10) abzugrenzen ist. Eine Bipolare Depression wird auch manisch-depressive Erkrankung genannt. Die Bipolare Depression ist im Gegensatz zur unipolaren Depression durch den Wechsel zwischen pathologisch übersteigerten Aktivitätsphasen (Manie) bzw. gedämpften Aktivitätsphasen (Depression) gekennzeichnet.
Im Folgenden steht der alleinstehende Begriff der Depression immer für die unipolare Form, andere Formen sind entsprechend benannt.
Eine weitere Form Affektiver Störungen ist die reaktive Depression, die sich fundamental von einer endogenen Depression unterscheidet. Bei einer reaktiven Depression sind ausschließlich äußere Umstände die Ursachen, während die endogene Form auf inneren (= endogenen) oder unklaren Faktoren beruht. Die Differenzierung zwischen endogener und reaktiver Depression ist in der Praxis eine Herausforderung. Eine leichte reaktive Depression wird alternativ als depressive Verstimmung bezeichnet.
Häufig wird für die endogene Depression auch der Begriff klinische Depression verwendet, um sie von der reaktiven Depression abzugrenzen. Der Begriff „klinisch“ ist allerdings nicht eindeutig, da er auf die Notwendigkeit einer (klinischen) Behandlung hinweist, die aber sowohl eine endogene als auch eine reaktive Depression betreffen kann. Dieser Begriff spielt daher in den folgenden Betrachtungen keine Rolle.
Bezeichnend ist, dass der ICD-10-Katalog die endogene Depression nicht klar von der reaktiven Depression abgrenzt. ICD-10 verortet die reaktive Depression in die Hauptkategorie F32 mit der Bezeichnung als „Depressive Episode“. Die exakte Unterscheidung zwischen endogener und reaktiver Depression ist aber zentral für das Krankheitsverständnis und spielt in den nachfolgenden Betrachtungen eine erhebliche Rolle.
Die Diagnose einer Depression mit Hilfe von Fragetests ist aufgrund von Auswertungsproblematiken unsicher. Ebenfalls konterkarieren die individuell‑subjektiven Bewertungen eine exakte Messung. Meist wird die Stärke der Erkrankung von der Anzahl der ausgewählten Symptome abhängig gemacht. Eine Begründung dafür gibt es nicht. Darüber hinaus existieren unterschiedliche Testverfahren. Ein besonders häufig genutzter Fragebogen ist der Depressionstest nach I. K. Goldberg, der das Likert-Skalierungsverfahren verwendet. Es werden 18 Fragen mit sechs Antwortmöglichkeiten gestellt. Der Test ist hier zu finden: https://www.netdoktor.de/selbsttests/.
Eine weitere Schwierigkeit ist die allgemein unklare sprachliche bzw. fahrlässige Verwendung des Depressionsbegriffs, die unter anderem aus der Definitions- und Diagnoseproblematik resultiert. Das Wort wird häufig benutzt, um vorübergehende negative emotionale Befindlichkeiten zu beschreiben, die aus medizinischer Sicht fern jedes Verdachts einer Erkrankung sind.
Im Wesentlichen ist eine Depression oder die gedämpfte Phase einer bipolaren Störung gekennzeichnet durch das Hauptsymptom länger anhaltender Stimmungstiefs (Nr. 2 unten). Die gesamte Symptomatik lässt sich vier zentralen Bereichen zurordnen: Denken, Emotionalität, Verhalten und Körper:
Symptome aus dieser Liste, die nach Negativerlebnissen oder -erfahrungen lediglich temporär auftreten, gelten als reaktive Depression bzw. in leichterer Form als depressive Verstimmung. Die Symptome sind hauptsächlich schlechte Laune, Trauer oder Traurigkeit nach dem Verlust einer nahestehenden Person, begründete Frustrationsgefühle, vorübergehendes oder begründetes Grübeln, sich Sorgen machen, keine Lust auf etwas haben oder sporadische bzw. begründete Schlafstörungen. Gerade Frustrationsgefühle oder Übellaunigkeit wird im Volksmund häufig fahrlässig und fälschlicherweise als Depression bezeichnet. Nach Beseitigung der externen Auslöser verschwindet auch die depressive Verstimmung.
Allerdings kann eine depressive Verstimmung stressbedingt eine reaktive Depression begünstigen oder diese sogar maßgeblich auslösen. Die Entwicklung von depressiver Verstimmung zur behandlungsbedürftigen reaktiven Depression kann unter Umständen auch in einer endogenen Depression enden. Letzteres wird in Kapitel 4 noch genauer analysiert und begründet.
Sowohl die unipolare als auch die bipolare Depression gehören ab der mittelgradigen Intensität nach ICD‑10 zusammen mit der Schizophrenie zu den schwersten psychiatrischen Erkrankungen. Kombination, Intensität und Ausprägung der Symptome sind individuell verschieden, was eine Diagnose zusätzlich erschwert.
Eine länger als drei Wochen andauernde Depression gilt als behandlungsbedürftig. Oftmals unterbleiben therapeutische Maßnahmen, da weder Erkrankte noch Außenstehende den behandlungsbedürftigen Zustand erkennen. Schätzungen gehen von ca. vier Millionen betroffenen Menschen in Deutschland aus.
Depressionserkrankungen erhöhen die Selbstmordrate auf das 30fache. Es wird geschätzt, dass 40 bis 70 Prozent aller Suizide in Deutschland durch sie verursacht werden.
Eine Klassifikation nach Stärke der Einschränkungen in der Bewältigung des Tagesablaufs ist eine sinnvolle Alternative zur Summierung von Symptomen. Die folgende Kategorisierung ist besser vergleich- und unterscheidbar, die Übergänge sind fließend.
Parallel sollte eine Beschreibung einzelner Beschwerden erfolgen, zum Beispiel aus der Denken-Fühlen-Verhalten-Körper-Merkmalsliste oben, wobei die Anzahl der auftretenden Beschwerden bei der kategorischen Einordnung jedoch maximal nur eine untergeordnete Rolle spielen sollte.
Auch hier ist eine 100%ige Objektivierbarkeit, das heißt ein Rückschluss von den beschriebenen Verhaltensweisen auf die Stärke der tatsächlich individuell empfundenen Gemütseinschränkung, nicht immer möglich. Es ist häufig so, dass die Depression vom Betroffenen als wesentlich belastender erlebt wird, als es die Auswirkungen nach außen vermuten lassen. Je höher der soziale Druck ist, dem der Erkrankte ausgesetzt ist, „funktionieren“ zu müssen, desto größer kann diese Diskrepanz sein. So schleppen sich viele Betroffene beispielsweise täglich zur Arbeit und erledigen ihre sonstigen Verpflichtungen, obwohl sie aufgrund ihrer Gemütsverfassung dazu eigentlich nicht mehr in Lage sind. Es besteht die Gefahr einer Symptomverstärkung aufgrund zusätzlicher Überbelastung, den persönlich und beruflich nahestehenden Personen wird die Schwere der Erkrankung dadurch zusätzlich verschleiert. Es besteht die Gefahr, dass das tatsächliche Ausmaß der Erkrankung vom persönlichen Umfeld nicht wahrgenommen wird.
Ein Mix genetischer, biologischer und psychosozialer Faktoren kann eine Depression auslösen ‑ diese Ursachenhypothese wird als multifaktorielle Ätiopathogenese bezeichnet. Es existiert bis heute kein Modell, das alle potentiellen Auslöser ganzheitlich integriert.
Eine biologische Erklärung als Teil der multifaktoriellen Ätiopathogenese ist die Monoaminmangelhypothese (auch: Monoaminhypothese), deren Beschreibung weiter unten folgt. Alternative Erklärungen sind die Hypothese polygenetisch-vererbter Dispositionen oder das Vulnerabilitäts-Stress-Modell.
Glaubt man Pharmakologen und Nervenärzten, ist eine Depression mit Standardmedikamenten und Psychotherapie ohne Abstriche an Lebensqualität gut behandelbar. Es wird gerne übersehen, dass die Erfolge dieser konservativen Behandlungsmethoden ernüchternd sind. Es scheint manchmal so, dass der Hinweis auf die „gute Behandelbarkeit“ einer Depression oder manisch-depressiven Erkrankung eher zur Beruhigung Betroffener geschieht und dem gut gemeinten Ziel dient, diese nicht zu verunsichern und für eine medikamentöse Behandlung zu gewinnen.
Besonders kontraproduktiv sind die vielen Medienbeiträge, die Betroffenen Mut machen sollen und das Gegenteil erreichen. Dort erhalten sie „Tipps“ wie „verbessern Sie Ihre Stimmung durch positive Aktivitäten, treiben Sie Sport, denken Sie positiv, gehen Sie Ihren Hobbys nach, steigern Sie Ihre Wertschätzung“ etc. Jeder, der eine Depression oder bipolare Erkrankung aus eigener Erfahrung kennt, spürt die Ratlosigkeit hinter derartig floskelhaften, gut gemeinten Ratschlägen. Diese sind darüber hinaus geeignet, die Erkrankung zu verharmlosen, erwecken den falschen Eindruck einfacher Behandlungsstrategien und unterstellen eigene Verfehlungen und damit eine Mit- oder sogar Hauptschuld an der Erkrankung.
All dies widerspricht der allgemein ungünstigen Krankheitsverlaufsprognose, die in zahlreichen Veröffentlichungen bzw. Studien dokumentiert ist (→ Härter/Bermejo/Niebling, Praxismanual Depression, Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 2007, www.lbib.de/...).
Die Erfolgsaussichten klassischer Kombinationstherapien (Psychotherapie + Antidepressiva) sind ernüchternd:
Diese Verteilung wird als Drittel-Regel bezeichnet und vergleichbare Verteilungen gibt es auch bei der Behandlung anderer neurologisch-psychiatrischer Erkrankungen.
Der ungünstige Erkrankungsverlauf resultiert vor allem aus der unzulänglichen Wirksamkeit von Antidepressiva. So wurde im Rahmen von Initiativen zur Verbesserung der Qualität pharmazeutischer Produkte festgestellt, dass selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) bei 38% der Behandlungen keinerlei Wirkungen zeigen, wobei über den Behandlungserfolg der restlichen 62 % keine Informationen vorliegen. Ähnliche Bewertungen liegen auch bei anderen neurologischen Erkrankungen vor. Bei Medikamenten gegen Morbus Alzheimer lag die Quote der Unwirksamkeit sogar bei 70% (Quelle: Spear/Heath-Chiozzi/Huff, Clinical application of pharmacogenetics, in: Trends in Molecular Medicine, Vol. 7/No. 5, Mai 2001).
Die Ergebnisse einer Metastudie über die Wirkung von SSRI und SSNRI (Serotonin‑Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer) aus dem Jahre 2008, die nach ihrer Veröffentlichung eine breite mediale Aufmerksamkeit bekamen und auf der Auswertung von etwa 50 Einzelstudien beruhten, waren noch niederschmetternder: Sie ergaben klare Beweise, dass die Medikamente nicht wirksamer sind als die Scheinpräparate (Quelle: Kirsch et al. 2008, Public Library of Science Medicine, Bd. 5). Nur bei schweren Erkrankungsfällen wurde ein kleiner und unbedeutender Unterschied zum Placebo festgestellt. Allerdings betraf die Untersuchung ausschließlich Studien über die Wirkstoffe Fluoxetin, Venlafaxin, Nefazodone und Paroxetin, so dass die Aussagen nicht auf alle Medikamente dieser Wirkmechanismen übertragen werden können. Die Resultate sind jedoch typisch und bestätigen die erwähnten Vorbehalte. Mit interessanten Details zu Paroxetin beschäftigt sich auch der folgende Abschnitt.
Die Studienergebnisse von Kirsch et al. wurden nach ihrer Publikation von Pharmaherstellern und Fachärzten kritisiert. Prof. Ulrich Hegerl vom Universitätsklinikum Leipzig entgegnete, dass „(...) die Schlussfolgerung dieser Übersichtsstudie aber auf mehreren Fehlern beruht. Klinische Studien wie die, die Kirsch und sein Team von der University of Hull überprüft haben, sollten die prinzipielle Wirksamkeit der Antidepressiva überprüfen. In solchen Untersuchungen werden die Patienten umsorgt, aktiviert, sie erhalten Zuspruch, es wird ihnen Hoffnung vermittelt. Dabei kommt es zu einem riesigen Placebo-Effekt. Deshalb ist der Unterschied zwischen der Wirkung der Scheinmedikamente, die da verabreicht werden, und den echten Mitteln, so gering, wie Kirsch jetzt kritisiert. Denn diese Versorgung hilft zwar auch den Patienten, die das echte Medikament erhalten, die Wirkung der Maßnahmen addiert sich aber nicht.“ (Quelle: Markus C. Schulte von Drach im Interview mit Ulrich Hegerl am 17.5.2010, Studie zu Antidepressiva - „Diese Berichte werden Menschenleben kosten“, SZ.de, Süddeutscher Verlag, München 2010, http://www.sueddeutsche.de/wissen/...).
Sind diese Einwände berechtigt? Zunächst ist es nicht möglich, die ca. 50 Einzelstudien hinsichtlich der Aussagen von Ulrich Hegerl zu prüfen, beispielsweise bezüglich der „Umsorgung“ der Teilnehmer. Mindestens genauso wahrscheinlich ist ein unpersönlicher, wenig umsorgender Studienablauf. Und selbst wenn es so wäre: Ist eine medizinische Behandlung außerhalb von Studien denn in der Regel nicht ebenso „umsorgend“? Bei genauer Betrachtung macht gerade dieser Einwand deutlich, dass die Medikamente und die Scheinmedikamente sich von ihrer Pharmakodynamik nicht oder kaum unterscheiden. Denn es müsste doch wenigstens ein ausreichend signifikanter Unterschied zwischen Placebo und einem Medikament feststellbar sein, auch wenn unterstellte Wirkungen durch Aktivierung und Umsorgung und die durch den echten Wirkstoff sich niemals „mathematisch“ verdoppeln und das auch niemand fordert.
Es ist natürlich viel von überzeugten SSRI‑ und SSNRI‑Therapeuten verlangt, sich kritisch über deren Wirksamkeit zu äußern. Denn das bedeutet, die eigene auf diesen Präparaten beruhende Behandlungsstrategie zumindest teilweise in Frage stellen zu müssen. Unverständlich bleiben jedoch unpräzise und hilflose Argumentationen wie die oben zitierten von Ulrich Hegerl. Es lässt darauf schließen, dass den Studienaussagen nichts Substanzielles entgegenzusetzen ist.
Solche Äußerungen sind leider keine Einzelfälle und einige könnte man auch als bewusst gezündete „rhetorische Nebelkerzen“ deuten. Das Problem liegt jedoch auch im beschränkten Angebot medikamentöser Behandlungen gegen Affektstörungen, die fast ausschließlich auf der Manipulation von Monoaminen beruhen. Denn was sollten Psychiater auch sagen, wenn sie kaum eine andere Möglichkeit haben, ihre Patienten medikamentös zu behandeln?
Das leitet über zu den Herstellern, die sich ebenfalls am Monoaminmangel-Mythos abarbeiten. Die Herstellerfinanzierung der meisten Antidepressivastudien ist problematisch. In verschiedenen Beiträgen wird berichtet, dass Pharmaunternehmen ihre eigenen Medikamente durchweg besser beurteilen als Vergleichspräparate und darüber hinaus massiv Studien unveröffentlicht lassen, die keinen Wirksamkeitsnachweis ihrer Wirkstoffe erbringen (Quellen: Hansen RA et al., Internal Med, 9/2005; Whittington CJ et al., Lancet 2004, Artikel im New England Journal of Medicine vom 17.1.2008). Eine Übersicht über den Themenkomplex enthält folgende Web-Seite: www.adfd.org/Manipulation bei Antidepressiva-Studien.
Ein gutes Beispiel, dass bei nicht herstellerunabhängig erstellten Studien Misstrauen berechtigt ist, betrifft eine zwischen den Jahren 1994 und 1998 durchgeführte Studie über die Wirksamkeit und Verträglichkeit des SSRI-Wirkstoffes Paroxetin an Heranwachsenden mit einer unipolaren Depression (Quelle: Paroxetin bei Jugendlichen unwirksam, Pharmazeutische Zeitung online, 17.9.2015, Govi-Verlag Pharmazeutischer Verlag GmbH, Eschborn 2015, http://www.pharmazeutische‑zeitung.de/...).
Im Juli 2001 veröffentlichte ein 21-köpfiges Team um den Psychiater Martin Keller von der Brown University School of Psychiatry and Human Behavior, Providence/USA, die besagte Untersuchung über Produkte des damaligen Pharmaherstellers SmithKline Beecham (heute: GlaxoSmithKline) in der rennomierten Fachzeitschrift Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry (M. Keller et al., Efficacy of Paroxetine in the Treatment of Adolescent Major Depression: A Randomized, Controlled Trial, http://www.jaacap.com/...).
Die Zusammenfassung der damaligen Studienergebnisse belegte eine gute Wirksamkeit und Verträglichkeit der Paroxetin-Präparate von SmithKline Beecham ‑ Handelsnamen Paxil bzw. Seroxat ‑ bei Kindern und Jugendlichen (Originalzitat aus dem Abstract: „Paroxetine is generally well tolerated and effective for major depression in adolescents.“).
Diese positiven Schlussfolgerungen der Autoren wurden jedoch von Beginn an in Zweifel gezogen, da sie der ausführlichen Studiendokumentation völlig widersprachen. Die Studie wurde erstmals im Jahre 2002 von einem Mitarbeiter der amerikanischen Aufsichtsbehörde für Arzneimittel U. S. Food and Drug Association (FDA) bis ins Detail überprüft. Dieser stellte fest, dass Paroxetin gegenüber dem Placebo keine signifikante Überlegenheit zeigte. Das gilt auch für das in der Studie zum Vergleich herangezogene trizyklische Antidepressivum Imipramin. Die jeweils achtwöchigen Verabreichungen bewirkten auf der 66 Punkte umfassenden Hamilton-Skala eine Verbesserung um 10,7 Punkte (Paroxetin), 9,0 Punkte (Imipramin) beziehungsweise 9,1 Punkte (Placebo). Die Abweichungen zum Placebo waren somit minimal und weit jenseits eines Wertes, der als brauchbar anzusehen ist. Signifikant hingegen waren die Nebenwirkungen: Paroxetin erhöhte beispielsweise die Suizid-Gefahr erheblich, Imipramin ging mit einem erhöhten kardiovasuklären Risiko einher.
All das hat den Markt für Paroxetin bei Jugendlichen zunächst nicht tangiert. Alleine in den USA wurde 2002, also im Jahr der ersten Überprüfung durch die US-amerikanische FDA, über zwei Millionen mal Paroxetin für Kinder und Jugendliche verordnet.
Erst aufgrund Nachforschungen britischer Journalisten und ihrer Veröffentlichungen in verschiedenen BBC‑Reportagen wurden die britische Zulassungs- und Aufsichtsbehörde für Arzneimittel Medicines and Healtcare Products Regulatory Agency und auch ihr US-amerikanisches Pendant FDA ‑ die FDA nun schon zum zweiten Mal nach 2002 ‑ auf den Fall aufmerksam. Im Juni 2003 informierten beide Behörden Fachkreise und Ärzte und wiesen diese an, Paroxetin nicht mehr an Jugendliche unter 18 Jahren zu verschreiben.
Die Verfehlungen im Zusammenhang mit dieser Studie waren sehr komplex und gingen über manipulative Formulierungen im Studien-Abstract weit hinaus. Es wurden nicht nur Ergebnisse manipuliert und zurückgehalten. Die Namen einiger Studienteilnehmer hatte man sich ausgedacht und mindestens drei Jugendliche wurden nach Suizidversuchen mit der Begründung aus der laufenden (!) Studie ausgeschlossen, sie seien ungeeignet für eine Teilnahme.
Auch die Vermutung eines Herausgebers des British Medical Journals, dass die Textentwürfe der Studiendokumentation von Ghostwritern des Herstellers geschrieben wurden, hat sich bestätigt. GlaxoSmithKline beauftragte die auf Pharmaprodukte spezialisierte PR-Agentur Scientific Therapeutics Information mit der Erstellung des Fachartikels, der später unter dem Namen von Martin Keller veröffentlicht wurde. (Quelle: Controversial Paxil paper still under fire 13 years later, 2.4.2014, The Brown Daily Herald, Providence, Rhode Island/USA, 2014, http://www.browndailyherald.com/...).
Das passt zu dem Fakt, dass die 21 angegebenen „Mitautoren/-innen“, allesamt die Crème de la Crème der amerikanischen Kinderpsychiatrie, überhaupt nicht direkt an der Durchführung der Untersuchung beteiligt waren.
Darüber hinaus arbeiteten damals der „Studienleiter“ Martin Keller und mindestens einer der „Mitautoren“, hier: James P. McCafferty, für SmithKline Beecham. Einen Hinweis auf Interessenkonflikte sucht man im Studiendokument jedoch vergeblich.
Es stellte sich heraus, dass SmithKline Beecham bzw. GlaxoSmithKline Studien im Zusammenhang mit Paroxetin-Präparaten schon immer manipulierte und diesen niemals eine Wirksamkeit hätte attestiert werden dürfen, die über die Placebowirkung hinausreicht.
Die Verfehlungen des Herstellers führten zum größten Strafverfahren in der Geschichte der Pharmazie. Im Jahre 2012 akzeptierte GlaxoSmithKline eine Strafe in Höhe von 3 Milliarden US‑Dollar wegen verschiedener Manipulationen, hauptsächlich jedoch im Zusammenhang mit der Studie 329.
Dennoch hält die Diskussion um den Wirkstoff und die Veröffentlichung an. Trotz mehrfacher Aufforderung in den Jahren 2003, 2005 und 2009, die Studie nachträglich zurückzuziehen, weigern sich die Herausgeber des Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry bis heute. Im Jahre 2013 wurde dieses Anliegen erfolglos dem Hersteller GlaxoSmithKline vorgetragen.
Dass die Studie 2015 nochmals begutachtet und der Skandal damit weiter ein Thema bleibt, ist der Initiative der Forschergruppe Restoring Invisible and Abandoned Trials/RIAT und dem British Medical Journal zu verdanken.
Bis heute (Stand März 2023) sind Paroxetin-Präparate auf dem Markt und werden gegen verschiedene psychiatrische Erkrankungen verschrieben.
Die medizinische Forschung konzentriert sich bis heute vor allem auf die monoaminen Neurotransmitter Noradrenalin und Serotonin, denn beide sollen mit einer Depression in einem engen Zusammenhang stehen. Die meisten der sich auf dem Markt befindlichen Medikamente manipulieren daher die Reizübertragung dieser beiden Substanzen im Gehirn. Die Frage nach den genauen Kausalitäten zwischen Störungen im Noradrenalin- und Serotoninstoffwechsel und einer Affekterkrankung bleibt unbeantwortet. Es gibt hier leider keine einheitliche Meinung.
Diese sogenannte Monoaminmangelhypothese wird von vielen Forschern bezweifelt (Quelle u. a.: Köhler 2005), da die lange Verzögerungszeit der Wirkung eher für andere Ursachen spricht. Die Medikamente wirken nach der Einnahme an den Übertragungsstellen der Nervenzellen sofort, während die eigentliche depressionsmindernde Wirkung ‑ sofern überhaupt eine eintritt, siehe oben ‑ in den meisten Fällen erst nach mehreren Wochen einsetzt. Viele Wissenschaftler gehen daher davon aus, dass eher nachgelagerte Prozesse für die Minderung der Symptome verantwortlich sind.
Darüber hinaus werden die langen Wirkungsverzögerungszeiten vieler Substanzen auch mit Placebo-Effekten in Zusammenhang gebracht.
Viele Mediziner sehen ein weiteres Problem im breiten Wirkungsspektrum der Antidepressiva und schließen eher auf eine beruhigende, angstlösende Wirkung der Mittel anstatt einer Senkung der depressiven Symptomatik (Quelle: Moncrieff/Kirsch 2005).
Wegen der Skepsis bezüglich Serotonin und Noradrenalin wird derzeit verstärkt nach Möglichkeiten geforscht, andere monoamine Neurotransmitter zu beeinflussen. So soll der relativ neue Wirkstoff Bupropion (Handelsname Elontril) Dopamin* manipulieren. Andere Forschungsaktivitäten beschäftigen sich mit der Manipulation des Neurotransmitters Gamma-Aminobuttersäure (GABA).
Nach der Monoaminmangelhypothese werden Botenstoffmängel oder Botenstoffübertragungsstörungen an den Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen vermutet. Das betrifft vor allem die beiden Neurotransmitter Serotonin und Noradrenalin, denen stimmungsaufhellende bzw. antriebsfördernde Wirkungen unterstellt werden.
Eindeutige Aussagen und schlüssige Erklärungen über Ursache-Wirkungs-Beziehungen gibt es nicht. Es wird nichts darüber ausgesagt, ob der angebliche Serotonin- oder Noradrenalinmangel eine Depression verursacht, ob der Zusammenhang umgekehrt ist oder ein anderer Zusammenhang besteht. Niedrige Serotoninwerte von bis zu ‑50% sind bei vielen Depressiven in verschiedenen Körperflüssigkeiten (Blutserum, Urin, Speichel oder Liquor) messbar, jedoch gibt es auch Untersuchungen, die zu gegenteiligen Ergebnissen kommen. Die Höhe des Serotoninspiegels ist nur bedingt aussagekräftig, denn die Werte in verschiedenen Körperflüssigkeiten sagen nichts aus über die unmittelbaren Vorgänge an den Kontaktstellen der Nervenzellen im Gehirn.
So gehen die Meinungen über die Serotoninwirkungen weit auseinander. Ein Artikel des Magazins Zeit Wissen aus dem Jahre 2008 fasst die Kontroverse sehr anschaulich in wenigen Sätzen zusammen: „Der Botenstoff Serotonin hat eine erstaunliche Karriere als Glückshormon hingelegt. Maßgeblich beteiligt daran waren Werbemaßnahmen für Medikamente. Seit 1965 verdächtigen Ärzte einen niedrigen Serotonin-Spiegel im Gehirn, für Depressionen verantwortlich zu sein. Doch die große Zeit des Botenstoffs begann in den 80er Jahren. Damals wurde eine neue Art von Antidepressiva entwickelt, die Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI, berühmt wurde vor allem Prozac, in Deutschland unter dem Namen Fluctin im Handel). Diese sollen verhindern, dass die Nervenzellen im Gehirn das ausgeschüttete Serotonin zu schnell wieder aufnehmen. Auf der deutschen Internetseite des Pharmaherstellers Pfizer steht nach wie vor: «Bei einer Depression besteht ein Mangel an Serotonin.» Doch dies konnte bis heute keine Studie nachweisen. Manche Depressive haben sogar einen höheren Serotonin-Spiegel als Gesunde. Was ein normaler Wert ist, weiß ohnehin niemand. Außerdem dauert es in der Regel mehrere Wochen, bis die SSRI bei Patienten Wirkung zeigen, obwohl die Wiederaufnahme-Hemmung schon nach den ersten Tabletten einsetzt. Viele Forscher vermuten inzwischen, dass Serotonin nur indirekt mit der Depression zu tun hat. Die irische Medikamenten-Aufsichtsbehörde jedenfalls untersagte 2003 einem Pharmahersteller, in Informationsbroschüren zu behaupten, das Antidepressivum korrigiere ein chemisches Ungleichgeweicht im Gehirn.“ (Quelle: Eva‑Maria Schnurr, Gefährliche Helfer, Zeit Wissen 2/2008, Zeitverlag Gerd Bucerius, Hamburg).
Kenntnisse von an affektiven Vorgängen beteiligten Neurotransmittern und deren genaue Wirkungen sind sehr rudimentär - und das betrifft nicht nur Serotonin oder Noradrenalin. Es wird mittlerweile von etwa 1.000 Substanzen ausgegangen, die bei der Übertragung von Nervenreizen alleine für Gefühlsregungen eine Bedeutung haben (Quelle: C. Eberhard‑Metzger, Glück ist, wenn die Chemie stimmt, in: Bild der Wissenschaft, Konradin Medien GmbH, Leinfelden-Echterdingen 1999, www.wissenschaft.de/.../65655/).
So wurden weitere Neurotransmitter identifiziert, die hier eine Rolle spielen könnten, beispielsweise Dopamin, Acetylcholin, Aspartam, Dimethyltryptamin, Histamin oder die Gamma-Aminobuttersäure (GABA).
Auch eine Vielzahl von Endorphinen bzw. Neuropeptiden ist in die Nervenreizübertragung und -weiterleitung involviert. Die Existenz unbekannter Botenstoffe ist ebenso wahrscheinlich. Weiter gibt es zahlreiche Neuromodulatoren wie Spurenamine, die Gefühle und Empfindungen im Nervensystem steuern und in ihrer Wirkung noch wenig erforscht sind. Viele Nervenzellen schütten Kotransmitter aus, die ebenfalls zur Gruppe der Neuromodulatoren gehören und im Bereich der Emotionen stark steuernd eingreifen. Deren Wirkungsmechanismen sind noch so gut wie unbekannt.
Andere wichtige Substanzen sind Neutrophine oder Nervenwachstumsfaktoren, die als Neurostimulatoren für die Entwicklung und Funktionsfähigkeit von Nervenzellen eine große Bedeutung haben. Der wichtige Nervenwachstumsfaktor BDNF (Brain-derived neurotropic factor) wird aktuell verstärkt erforscht. Ein BDNF-Mangel wird mit verschiedenen Nervenerkrankungen in Verbindung gebracht, unter anderem auch mit Affektstörungen.
Die zahlreichen Symptome einer Depression verweisen ebenfalls auf einen komplexen Ursachenmix: Eine auf Ungleichgewichte weniger Botenstoffe basierende Erklärung der Erkrankung ignoriert eine Symptomvielfalt, die nicht ausschließlich durch Stimmungstiefs oder Antriebsarmut gekennzeichnet ist.
Mit den gängigen Medikamenten ist man derzeit lediglich in der Lage, die Übertragung monoaminer Neurotransmitter zu manipulieren, wobei noch nicht einmal die genauen Wirkmechanismen der Präparate verstanden werden: Durch Tricks wird erreicht, dass die Botenstoffe länger im synaptischen Spalt zwischen den Nervenzellen verbleiben. Auch auf die Reizweiterleitung innerhalb der Nervenzellen in deren faserartigen Axonen haben die Medikamente keinen direkten Einfluss.
Eine direkte Erhöhung der Botenstoffe in der Zelle ist pharmakologisch nicht möglich und würde darüber hinaus mit hoher Wahrscheinlichkeit unerwünschte Gegenreaktionen der Nervenzellen auslösen. Eine industrielle Produktion von Serotonin gilt als ausgeschlossen, und ein solches (fiktives) Präparat würde nicht in der Lage sein, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden. Ebenfalls ist zu erwarten, dass längerfristig eingenommenes Serotonin ‑ mal hypothetisch unterstellt, es erreiche die Nervenzellen im Gehirn gezielt ‑ eine Gegenreaktion serotonerger Neuronen zur Folge hätte, indem diese ihre Eigenproduktion noch weiter drosseln. Ein weiteres Szenario ist die Reduktion der Anzahl von Serotoninrezeptoren aufgrund einer externen Serotoninzufuhr.
Die zentrale Frage lautet: Ist die Monoaminmangelhypothese plausibel und sind die Wirkungsmechanismen derzeit verfügbarer Antidepressiva geeignet, eine Depression erfolgreich zu therapieren? Zur Beantwortung müssen die Wirkungsmechanismen der Medikamente und die Konsequenzen ihrer Anwendung umfassend bewertet werden, woraus 14 Einwände resultieren:
Das Ergebnis aus diesen 14 Einwänden: Bedingt durch ihren unvollständigen und manipulativen Ansatz sind die gängigen Antidepressiva nicht im Mindesten in der Lage, den Anforderungen an eine ursächliche Therapie gerecht zu werden. Die hohe Unzufriedenheit bei vielen Erkrankten und deren Angehörigen und die von fachlicher Seite geübte Kritik decken sich mit der oben erwähnten Tatsache, dass mindestens 2/3 der Behandelten nicht oder nur bedingt von ihnen profitieren.
Erste Schlussfolgerungen ergeben sich vor allem aus den Einwänden 1 bis 6, 11, 12 und 14, die eine wesentlich komplexere neuronale Funktionsstörung nahelegen und zur ersten These führen:
Die Gliazellen wurden bis vor wenigen Jahren noch kaum beachtet, obwohl ihre Anzahl im menschlichen Gehirn auf bis zu 100 Billionen geschätzt wird und das Gehirn eines Menschen in manchen Arealen bis zu 50-mal mehr Gliazellen als Neuronen haben kann. Bei einer Untersuchung des Gehirns von Albert Einstein fand die Forscherin Marian Diamond in den 1970er Jahren heraus, dass dessen assoziativer Cortex, ein wichtiges Areal des vorderen Großhirns, bedeutend mehr Gliazellen enthielt als der eines durchschnittlich begabten Menschen (Quelle: Bild der Wissenschaft, Konradin Medien GmbH, Leinfelden-Echterdingen 9/2008). Der Begriff Hirnzellen schließt daher, neben den verschiedenen Neuronenarten, die Gliazellen ein. Gliazellen werden durch Antidepressiva nicht beeinflusst.
Zunächst wurde den Gliazellen nach ihrer Entdeckung im 19. Jahrhundert durch Rudolf Virchow nur eine Funktion als „Nervenkitt“ zur Stützung der Neuronen zugeschrieben.
Nach und nach hat sich das Wissen über ihre Funktionen erhöht und seit einigen Jahren ist bekannt, dass eine bestimmte Sorte von Gliazellen, die Astrozyten, sogar den Informationsaustausch an den Synapsen der Neuronen modulieren, indem sie eigenständig Neurotransmitter ausschütten. Weiter sind Astrozyten für den An‑ und Abtransport von Flüssigkeit zuständig und nehmen überschüssige Kalium‑Ionen während der Reizweiterleitung auf. Bestimmte Typen von Astrozyten sind in der Lage, Neurogenese zu betreiben, das heißt sich in Neuronen umzuwandeln, um Lücken aufzufüllen. Neueste Forschungen weisen darauf hin, dass Astrozyten auch aktiv den Glukosetransport ins Gehirn steuern (Quelle: Pharmazeutische Zeitung online, Gliazellen regulieren aktiven Zuckertransport ins Gehirn, Avoxa-Mediengruppe Deutscher Apotheker GmbH, 12.8.2016, http://www.pharmazeutische-zeitung.de/...).
Darüber hinaus stellen die Mikrogliazellen das Immunsystem des Gehirns dar und sind für den Abtransport schädlicher Stoffe, beispielsweise von Teilen abgestorbener Zellen, zuständig.
Andere Typen von Gliazellen bilden die weiße Myelinschicht, welche die Axone der Neuronen voneinander isoliert und für die Nervenreizweiterleitung wichtig sind. Diese Gliazellen werden im Gegensatz zur „grauen Substanz“, den eigentlichen Nervenzellkörpern, als „weiße Substanz“ bezeichnet. Im Rückenmark und Gehirn sind das die Oligodendrozyten und außerhalb davon im peripheren Nervensystem die Schwann'schen Gliazellen.
Forscher der Universität Stanford/Kalifornien (Quelle: Barres et al. 2005) haben nachgewiesen, dass Gliazellen für die Anzahl der von Nervenzellen gebildeten synaptischen Verbindungen verantwortlich sind und an regenerativen Vorgängen im Gehirn mitwirken.
Die oben beschriebenen Funktionen sind aber nur ein kleiner Teil dessen, was Gliazellen im Nervensystem leisten. Quintessenz: Die Qualität der Informationsverarbeitung und der Gesundheitszustand eines Gehirns hängen wesentlich von den Gliazellen ab. Daher nun die zweite These, die aus den Einwänden 1, 3, 4 und 14 der Aufzählung oben folgt:
Für ein umfassendes Verständnis einer Affekterkrankung sind Überlegungen unzureichend, die sich ausschließlich an Funktionsweise und Funktionsfähigkeit einzelner Zellen orientieren. Schon bei der Diskussion über die Schwachstellen der Wirkungsmechanismen gängiger Antidepressiva wurde mit Einwand 10 kritisiert, dass diese auch in nicht betroffenen Bereichen unerwünschte Aktivitäten entfalten und Nebenwirkungen verursachen. Einwand 14 weist darauf hin, dass andere hirnorganische Begründungen einer Affektstörung nicht berücksichtigt werden. Einer dieser Gründe könnte in der ausschließlichen bzw. überwiegenden Erkrankung von Hirnarealen liegen, die funktionell mit Affekten in einem direkten oder indirekten Zusammenhang stehen.
Das Gehirn eines Menschen hat ungefähr 100 Milliarden Nervenzellen mit einer unüberschaubaren Verflechtung untereinander. Jede Nervenzelle kann bis zu 10.000 Verbindungen zu anderen Nervenzellen unterhalten. Dazu kommt noch eine je nach Hirnareal zehn- bis zu fünfzigfach höhere Anzahl von Gliazellen. Einige Wissenschaftler und Philosophen bezeichnen das Gehirn als die „komplexeste Struktur des Universums“, was jedoch ziemlich vermessen ist, da bisher hauptsächlich irdische Strukturen einigermaßen bekannt sind.
Dass ein Gehirn ein komplexes Organ ist, steht außer Zweifel. Es hilft aber nicht weiter, sich davon entmutigen zu lassen, denn es besteht in erster Linie aus den beiden oben genannten Zellarten. Und beide Zellarten ‑ Neuronen und Gliazellen ‑ haben nur eine einzige Aufgabe: für eine korrekte Reizverarbeitung, das heißt Reizentstehung, ‑weiterleitung und ‑übertragung, zu sorgen. Bestimmte Gliazellen, wie Astrozyten, sind sogar zur Neurogenese fähig, woraus neue Nervenzellen hervorgehen. Natürlich sind auch Nebenaspekte bei jeder ganzheitlichen Betrachtung zu beachten, beispielsweise die Blutgefäßzellen des Gehirns, die mit ihrer Versorgungsfunktion indirekt ebenfalls der Reizverarbeitung dienen. Die Hauptakteure des Gehirns sind aber Nerven- und Gliazellen.
Warum sind die Erfolge im Verständnis und in der Behandlung neurologisch-psychiatrischer Erkrankungen so dünn gesät? Liegt eine Ursache vielleicht auch an übertriebenen Ängsten und übertriebenem Respekt vor der scheinbar undurchschaubaren Komplexität des Untersuchungsobjekts? Steht dem Fortschritt entgegen, dass im Hinterkopf jedes Menschen, der sich mit dieser Thematik beschäftigt, immer die Legende vom „komplexesten Gebilde des Universums“ herumgeistert und ihn damit negativ beeinflusst und hemmt?
Aber wie sieht die Realität abseits vom „komplexesten Gebilde des Universums“ aus? Betrachtet man Hirnpräparate, beispielsweise Hirngewebeschnitte, fällt die Uniformität der „grau-weißen Masse“ sofort auf. Berücksichtigt man diese Gleichförmigkeit (→ Abbildung 1) bei der Beurteilung hunderter offizieller Klassifizierungen unterschiedlicher neurologisch‑psychiatrischer Erkrankungen, die eine ähnlich große Anzahl unterschiedlicher Erkrankungsursachen suggerieren, stellt sich doch folgende Frage: Wie sollen so viele verschiedene Erkrankungen und Ursachenhypothesen eigentlich begründet werden, wenn das Gehirngewebe letztlich doch ziemlich uniform ist?
ABBILDUNG 1: EIN HIRNSCHNITT (LATERAL)
Abbildung 1: Ein Schnitt durch das menschliche Gehirn. Deutlich zu erkennen sind die Hirnwindungen mit den außenliegenden, grauen Bereichen der Nervenzellen. Zwar gibt es eine Menge verschiedener Subtypen von Nervenzellen, in Aufbau und Funktion sind sie grundsätzlich jedoch alle fast identisch. Davon zu unterscheiden ist die innere Substanz der Nervenleitungen (Axone) mit ihren myelinbildenden Gliazellen, die wesentlich heller ist und deshalb „weiße Substanz“ genannt wird. Verglichen mit anderen Organen, beispielsweise einer Niere oder einem Lungenflügel, sieht das zentrale Nervensystem klar strukturiert und aufgeräumt aus, die zerfurchte Struktur entsteht nur aus Platzgründen, denn auf diese Weise konnte die Natur sehr viele Nerven- und Gliazellen auf kleinstem Raum unterbringen. Der ICD-10-Katalog unterscheidet in zwei Kapiteln dennoch knapp 200 Grobkategorien von Erkrankungen mit zahlreichen Unterkategorien, die fast alle das Gehirn betreffen. Sollte man daraus den Schluss ziehen, dass es auch ebenso zahlreiche Erkrankungsursachen auf der primären Organebene gibt? Nein, denn die Uniformität des Gehirngewebes zeigt: Die Gründe können nur auf relativ wenigen grundsätzlichen Fehlfunktionen der Nerven- und Gliazellen beruhen, so dass die unterschiedlichen Hirnregionen dann ausschlaggebend dafür sind, welche Symptome sich manifestieren und vom Patienten wahrgenommen werden. Das ist vergleichbar mit einem Multiplikatoreffekt, der leider unzählige Erkrankungsursachen auf der (primären) Organebene suggeriert, die es aber nicht gibt. So gerät man schnell auf eine falsche Fährte.
Übertriebene Ehrfurcht vor dem Gehirn ist kontraproduktiv und schadet nur, denn sie behindert die Möglichkeiten, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen und macht blind für die wesentlichen Zusammenhänge. Das Gehirn soll nun einmal bewusst respektlos als ein „großer Zellhaufen“ betrachtet werden, um besser herausfinden zu können, ob Nervenerkrankungen nicht eigentlich auf viel grundlegenderen Fehlentwicklungen beruhen als bisher angenommen.
Und: Könnte das Übersehen grundlegender Fehlentwicklungen nicht eine Ursache dafür sein, dass es in der medizinischen Standardbehandlung vieler neurologisch-psychiatrischer Erkrankungen kaum Fortschritte gibt, obwohl Menschen Ende der 1960er Jahre auf dem Mond landeten oder in der Lage sind, auf einem daumennagelgroßen Siliziumbauteil immer noch weitere Milliarden elektronischer Bauteile unterzubringen? Plausible Thesen oder Fakten über die Entstehung von Hirnerkrankungen haben Seltenheitswert ‑ und das bei der übergroßen Anzahl der ICD‑10‑Diagnosen. Im Grunde wird das Gehirn von vielen noch heute als „Black‑Box“ betrachtet.
Natürlich gibt es noch weitere Faktoren, die kontraproduktiv wirken und den Fortschritt hemmen. So spielt auch die Zersplitterung der Nervenheilkunde in viele verschiedene Fachgebiete eine Rolle. Auch eine detailbesessene Forschung führt zum Verlust von Übersicht und Ressourcen und verringert die Chancen, zu nutzenstiftenden Ergebnissen zu kommen. Eine unbestreitbar notwendige Grundlagenforschung verzettelt sich oft in Einzelheiten, so dass die große Gesamtsicht auf der Strecke bleibt. Die Raumfahrttechnologen hätten es wahrscheinlich nicht weit gebracht, wenn sie ebenso vorgegangen wären. Denn man muss nicht die Rückseite des Mondes im Maßstab 1 : 1.000 kartographieren, um auf der anderen Seite zu landen.
Sinnvoll ist ein einfaches Funktionsmodell des Zentralnervensystems, das eine Übersicht der Hirnareale ermöglicht und geeignet ist, bestimmte Regionen als entscheidend für die Entstehung oder den Verlauf einer bestimmten Nervenerkrankung zu identifizieren.
Im Laufe langjähriger Untersuchungen konnten verschiedenen Hirnbereichen bestimmte Funktionen zugeordnet werden, obwohl aufgrund der Verschaltung der Regionen untereinander eine eindeutige Aufgabentrennung nicht immer möglich ist. Es hat sich jedoch gezeigt, dass vieles dennoch relativ zuverlässig lokalisierbar ist.
Im Folgenden werden alle wichtigen Hirnregionen und Strukturen vorgestellt:
Das Großhirn ist die komplexeste Hirnregion und nimmt ca. 80% des Hirnvolumens eines Menschen ein. Man unterscheidet zwei funktionelle Teilbereiche: die stammesgeschichtlich jüngere Großhirnrinde (auch „Cortex“ genannt) und die älteren Großhirnkerne, die unterhalb der Großhirnrinde angeordnet sind. Beide bilden zusammen die Großhirnhemisphären.
Die äußere Großhirnrinde steuert die höheren Funktionen, beispielsweise Intellekt oder Persönlichkeit. Teile der inneren Großhirnrinde und verschiedene Großhirnkerne stellen im Schwerpunkt große Teile des emotionalen Zentrums dar, welches vor allem für Gefühle, Angst, Stressverarbeitung und Antrieb zuständig ist. Einige Hirnkerne übernehmen Funktionen der Motorik oder sind an der Steuerung von Körperfunktionen beteiligt.
Bestimmte kognitive/intellektuelle Leistungen (zum Beispiel die Erinnerungs- und Konzentrationsfähigkeit) erfolgen in spezialisierten Großhirnkernen, die gleichzeitig auch für die Emotionsverarbeitung zuständig sind. Unterstellt man, dass Dysfunktionen emotionsverarbeitender Areale mit einer Depression in einem Zusammenhang stehen, ist es nicht verwunderlich, dass viele von einer Depression Betroffene auch über Konzentrationsunfähigkeit und eine verminderte Merkfähigkeit klagen.
In der äußeren Großhirnrinde werden in den folgenden Arealen die jeweils beschriebenen Aktivitäten gesteuert. Diese Aktivitäten repräsentieren den ersten großen Funktionsbereich des Gehirns, der hauptsächlich für bewusstes Erleben, Intellekt und Persönlichkeit zuständig ist.
Zum Cortex gehört nicht nur die äußere Großhirnrinde, auch die beiden Areale des Gyrus cinguli und Gyrus parahippocampalis sind als Bereiche der inneren Großhirnrinde Teile des Cortex.
Neben dem Assoziationsareal und dem Gyrus cinguli gibt es vielleicht weitere Cortex-Areale, die Emotionen bewusstmachen und bewerten und in direkter Verbindung mit den tiefer lokalisierten Hirnbereichen stehen, zum Beispiel durch komplexe Verbindungsnetze, wie der unten beschriebenen Formatio reticularis. Es ist auch eine interessante Frage, ob kognitive und emotionale Bereiche scharf voneinander abgegrenzt sind oder der Übergang fließend verläuft. All das kann derzeit nicht mit Sicherheit beantwortet werden.
Gyrus cinguli, Gyrus parahippocampalis und die affektiven Anteile des Assoziationsareals werden wegen ihrer Beteiligungen an emotionalen Vorgängen dem affektiven System des Zentralnervensystems zugeordnet.
Zum affektiven System zählen auch die Großhirnkerne Hippocampus mit Fornix und Corpus mamillare und der Mandelkern (Amygdala). Die Kerne sind in jeder der beiden Großhirnhemisphären links und rechts vorhanden, treten also paarweise auf. Die schon erwähnten Cortex-Areale Gyrus cinguli und Gyrus parahippocampalis bilden einen Ring um diese Großhirnkerne. In den Großhirnkernen werden Affekte gesteuert und reguliert, ohne dass sie auf dieser Stufe schon bewusstwerden; dies geschieht erst in den oben beschriebenen Cortex-Bereichen.
Diese Großhirnkerne sind von der Entwicklungsgeschichte des Menschen aus betrachtet älter als der für Bewusstsein, Persönlichkeit und Intelligenz verantwortliche, verhältnismäßig junge Cortex. Einige Großhirnkerne sind für die Steuerung vieler essentieller Körperfunktionen und des Gedächtnisses zuständig. Über solche Hirnstrukturen verfügten schon höhere Lebewesen in der Frühzeit der erdgeschichtlichen Entwicklung. Ihre Strukturen sind wesentlich filigraner und differenzierter im Vergleich mit der relativ uniformen Großhirnrinde.
Die auch als Stammganglien bezeichneten paarigen Großhirnkerne gehören ebenfalls zu den älteren Großhirnstrukturen. Auch hier ist das Verständnis ihrer Bedeutung noch sehr beschränkt.
Ihnen werden mannigfaltige Funktionen unterstellt. Früher dachte man nur an die willkürliche (Grob-)Motorik. Heute ist bekannt, dass sie auch an emotionalen Vorgängen beteiligt sind, unter anderem an Affekten, Antrieb oder Willenskraft. Ein Beispiel ist der Nucleus accumbens als Teil des „Belohnungszentrums“ mit seinen vielen Dopaminrezeptoren, der unter anderem bei der Entstehung von Suchterkrankungen und Morbus Parkinson eine Rolle spielt.
Ein weiteres Basalganglienareal, das Corpus striatum, scheint ebenfalls im Zusammenhang mit Affekten und Antrieb eine Rolle zu spielen. So basiert Chorea Huntington, eine neurodegenerative Erkrankung mit Störungen der Grob- und Feinmotorik als Hauptsymptomatik, vor allem auf der Zerstörung des Corpus striatum und geht auch mit Affekt-, Antriebs- und Persönlichkeitsstörungen einher.
Eine weitere Aufgabe der Basalganglien besteht in der Weiterleitung von Sinneseindrücken aus den Großhirnarealen an den Thalamus (→ Zwischenhirn).
Das Zwischenhirn hat drei Bestandteile: Thalamus, Hypothalamus und Hypophyse. Das Zwischenhirn bedient mit der zum affektiven System gehörenden Emotions- bzw. Aufmerksamkeitssteuerung einerseits und der Körperfunktionssteuerung andererseits zwei Hauptfunktionsbereiche des Gehirns.
Die an der Oberseite des Thalamus liegende kleine Drüse ist für die Produktion des Hormons Melatonin verantwortlich, das in der Nacht bzw. bei Dunkelheit verstärkt produziert wird und an der Steuerung des Tag‑Nacht-Rhythmus beteiligt ist. Melatonin stellt eine Vorstufe des Neurotransmitters Serotonin dar, und Fehlsteuerungen der Epiphyse werden mit der sogenannten „Winterdepression“ bzw. Saisonalen Depression (SAD) in Zusammenhang gebracht. Eine gestörte Melatoninproduktion führt eventuell zu Störungen des Schlafrhythmus.
Die Epiphyse wird in der Literatur manchmal dem Zwischenhirn zugeordnet.
Die relativ kleine Hirnregion ist in eine Vielzahl von Kernen differenziert und steuert vor allem vegetative Bewegungsabläufe. Ebenfalls werden Impulse der Augen bzw. Ohren und von Oberflächenrezeptoren der Haut an andere Hirnbereiche weitergeleitet. Eine Funktion des Mittelhirns besteht daher auch in der Sinnes- oder Schmerzwahrnehmung.
Die wichtigsten Mittelhirnkerne sind: Nucleus ruber (rote Substanz) und die Substantia nigra (schwarze Substanz). Eine Erkrankung der Substantia nigra ist hauptsächlich für Morbus Parkinson verantwortlich, hier wird ein großer Teil des wichtigen Neurotransmitters Dopamin produziert. Der Neurotransmitter Dopamin ist auch an der Steuerung von Antrieb bzw. Aktivitätsdrang beteiligt.
Die weiter unten beschriebene Formatio reticularis führt ihre aufsteigenden Nervenbahnen u. a. vom Mittelhirn zum Nucleus accumbens der Basalganglien. Die als mesolimbische Bahn bezeichnete Verbindung startet im Tegmentum des Mittelhirns, das auch als Mittelhirnhaube bezeichnet wird (→ Formatio reticularis).
Die zur Formatio reticularis zählenden Raphe-Kerne des Mittelhirns sind darüber hinaus eine Lokalisation der Serotonin-Produktion. Es wird vermutet, dass Serotonin an der emotionalen Steuerung, beispielsweise der Regulation der Stimmungslage, einen Anteil hat. Allerdings gibt es gegenteilige Meinungen über dessen Funktionen. Viele Mediziner und Forscher vermuten, dass Serotonin im Zusammenhang mit Affektstörungen eher eine nebensächliche Rolle spielt. Das zeigt sich auch in der kontroversen Diskussion über die Wirksamkeit von Antidepressiva, welche die Serotonin-Wiederaufnahme im synapthischen Spalt der Neuronen hemmen (→ Abschnitt 1.1 f.). Dennoch ist der Neurotransmitter für die Funktionalität des Gehirns von Bedeutung.
Direkt oberhalb des Rückenmarks beginnt übergangslos die Medulla oblongata und markiert den Beginn des Gehirns. Auch hier werden ‑ wie beim Mittelhirn ‑ nicht willentlich beeinflussbare (autonome) Regelkreise gesteuert, beispielsweise der Blutkreislauf, die Atmung oder der Niesreflex. Eine direkte Beteiligung dieser Hirnregion an emotionalen Vorgängen ist nicht wahrscheinlich.
Da das aufsteigende retikulär‑aktivierende System (ARAS) seinen Ursprung auch im unteren Stammhirn hat (→ Formatio reticularis) und die dort befindlichen Raphe‑Kerne ‑ wie auch die Raphe‑Kerne des Mittelhirns ‑ für die Synthese des Neurotransmitters Serotonin mitverantwortlich sind, würden Teile der Medulla oblongata die Entstehung und Steuerung von Emotionen vielleicht beeinflussen, sofern ‑ siehe oben ‑ Serotonin hier eine Bedeutung hat. Es hinge auch davon ab, auf welche Weise Serotonin emotionale Vorgänge generell beeinflusst und ob das in der Medulla oblongata synthetisierte Serotonin dabei überhaupt eine Rolle spielt (→ Abschnitt 1.1 f.).
Obwohl es Diskussionen über eine Beteiligung des Kleinhirns an kognitiven Fähigkeiten gibt, wird dieser Teil des Gehirns in erster Linie mit der Feinsteuerung von Bewegungsabläufen (Feinmotorik) und der Steuerung des Gleichgewichts in Verbindung gebracht. Erlernte Bewegungsabläufe, zum Beispiel das Radfahren oder das Spielen eines Musikinstruments, sind hier gespeichert.
Störungen des Kleinhirns führen daher zu einem Verlust der Bewegungskoordination, nicht jedoch zum Ausfall der Bewegungsabläufe und äußern sich dann in ungelenk wirkenden Bewegungen oder Sprechstörungen, sofern die grobmotorischen Zentren des Großhirns (= Basalganglien) noch ausreichend aktiv sind.
Die Brücke (Pons) bildet mit dem Kleinhirn eine Einheit. Sie liegt zwischen Mittelhirn und Medulla oblongata und leitet die Nervenimpulse aus den Großhirnhemisphären an die Kleinhirnregionen weiter.
Neueste Forschungen vom März 2022 zeigen, dass das Kleinhirn mit verschiedenen Bereichen des Großhirns kommuniziert und bei der Abspeicherung emotionaler Eindrücke vermutlich eine Rolle spielt (Quelle: Matthias Fastenrath et al., Human cerebellum and corticocerebellar connections involved in emotional memory enhancement, University of California Irvine, Irvine, USA, https://www.pnas.org/doi/...). Es könnten daher in Zukunft noch weitere Funktionen des Kleinhirns entdeckt werden, die bei der Emotionsverarbeitung eine Rolle spielen und die Sicht auf diesen Teil des Gehirns verändern.
Eine Beteiligung von Kleinhirn und Brücke an der Entstehung und Verarbeitung von Emotionen ist daher nicht ganz auszuschließen aber aus heutiger Sicht eher unwahrscheinlich.
Interessant ist die Formatio reticularis als ein diffuses und schwierig abzugrenzendes Nervennetz des Hirnstamms und des Zwischenhirns. Sie ist daher Bestandteil sowohl von Thalamus, Mittelhirn und Medulla oblongata. Ihre absteigenden Neuronen dringen bis ins Rückenmark vor, ebenfalls bestehen Verbindungen in das Kleinhirn. Ihre aufsteigenden Neuronen und Neuronenfortsätze führen über das Zwischenhirn und Mittelhirn sogar bis in Großhirnregionen (→ Mittelhirn). Die Formatio reticularis stellt eine der wichtigsten Nervenverbindungsstrukturen dar, die unterschiedliche Hirnbereiche miteinander verknüpfen.
Die aufsteigenden Nervenbahnen erzeugen das Erregungsniveau für den Wachzustand. Dieser Teil der Formatio reticularis wird daher auch als aufsteigendes retikulär‑aktivierendes System (ARAS) bezeichnet. Ohne ein funktionierendes ARAS ist kein Bewusstsein möglich.
Die Formatio reticularis ist auch für die komplexe Verarbeitung von Sinneseindrücken und Emotionen zuständig. Letztere erfolgt durch die Verknüpfung von Bereichen des Hypothalamus und des Mittelhirns mit den affektrelevanten Zentren der Basalganglien, dort vor allem mit dem Nucleus accumbens.
Neuroforscher sehen daher im Verständnis der Formatio reticularis und insbesondere des ARAS den Schlüssel zur Erforschung nicht nur dessen, was unter Bewusstsein im neurologischen Sinne als Wachzustand verstanden wird, sondern auch des phänomenal-gedanklichen Bewusstseins und des Individualitätsbewusstseins, also jener Phänomene, die das erlebbare Sein betreffen.
Die nachfolgende Graphik stellt das Gehirn schematisch in der Übersicht dar, die nicht die tatsächlichen Größenverhältnisse der Areale oder deren Lage korrekt abbildet.
ABBILDUNG 2: DIE VERSCHIEDENEN HIRNAREALE („GEHIRNLANDKARTE“)
Abbildung 2: Eine schematische Darstellung der verschiedenen Hirnregionen. Das Rückenmark ist Teil des zentralen Nervensystems (ZNS), aber nicht Bestandteil des Gehirns, das übergangslos mit der Medulla oblongata beginnt. Hellgelb: Großhirnrinde; Dunkelgelb: untere Großhirnkerne; Orange: Zwischenhirn (einschließlich Hypophyse) und Epiphyse; Türkisblau: Stammhirn; Grün: Kleinhirn mit Brücke (Pons). Die Nervenbahnen der Formatio reticularis (rote Pfeillinien) sind vor allem im Tegmentum des Mittelhirns und im Thalamus lokalisiert, reichen aber als aufsteigendes, retikulär‑aktivierendes System (ARAS) über die Basalganglien (dort vor allem im Nucleus accumbens) bis in verschiedene Regionen der Großhirnrinde. Nach unten führen die Bahnen der Formatio reticularis bis ins Kleinhirn bzw. Rückenmark.
Anhand von Gehirnlandkarte (→ Abbildung 2) und den Funktionsbeschreibungen werden Gehirnbereiche markiert, die im Zusammenhang mit Affekten/Emotionen, Angstverarbeitung oder Antrieb stehen einschließlich einer grob geschätzten Bewertung ihres Beteiligungsgrads an diesen Vorgängen. Im Umkehrschluss ergibt sich eine Rangfolge der Relevanz verschiedener Hirnareale an der Erkrankungsgenese.
In seiner Gesamtheit stellt das markierte Areal das affektive System des zentralen Nervensystems dar. Die Gewichtung einzelner Areale ist zwar sekundär und spekulativ, jedoch nachvollziehbar. In Abbildung 3 werden die Areale gemäß ihrer vermuteten Rangfolge mit den Farben Schwarz, Grau und Hellgrau gekennzeichnet.
ABBILDUNG 3: DIE AFFEKTIV-EMOTIONALEN GEHIRNAREALE (FUNKTIONSMODELL)
Abbildung 3: Eine Darstellung der Hirnregionen mit den für Affekte, Antrieb und Angstverarbeitung zuständigen Bereichen. Alle dunkel markierten Areale sind hier involviert - je dunkler das Areal markiert ist, desto stärker ist es geschätzt beteiligt. Einen starken Anteil haben Gyrus cinguli, Amygdala, Hippocampus und Fornix (Schwarz). Von einer mittelgradigen Beteiligung ist bei den Basalganglien und dem Thalamus auszugehen (Dunkelgrau), während Hypophyse, Hypothalamus und Epiphyse durch ihre autonomen Steuerungsaufgaben beteiligt sind (Hellgrau). Das Kleinhirn mit Brücke und das nicht zum Gehirn zählende Rückenmark sind unbeteiligt. Mamillarkörper und Gyrus parahippocampalis wurden aufgrund ihrer unsicheren Zuordnung jeweils mit einem Fragezeichen versehen, sind wahrscheinlich nicht an der Affektverarbeitung beteiligt. Ähnliches gilt für die Medulla oblongata, denn deren Raphe-Kerne sind ein Ort der Serotoninproduktion und zählen zur Formatio reticularis, die fast alle emotionalen Bereiche durchzieht. Bei Funktionsstörungen in Arealen, durch die das Netz der Formatio reticularis führt, kann es zu Unterbrechungen oder Veränderungen von Reizen kommen.
Analysen und Bewertungen lassen nur die dritte kausaltheoretische These zu:
Es ist nicht zwingend, dass alle oder eine bestimmte Anzahl von Hirnbereichen an einer Affektstörung beteiligt sein müssen. Die Funktionseinschränkungen könnten auch nur ein Areal betreffen. Ebenfalls ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Grad der Funktionseinschränkungen überall unterschiedlich ist, sofern mehrere Bereiche involviert sind. Auch die zentral bedeutenden Verbindungen der Formatio reticularis erschweren Zuordnungen und klare Abgrenzungen.
Affektive Erkrankungen entstehen, wenn sich informationsverarbeitende Neuronen bzw. Gliazellen in affektverarbeitenden Hirnarealen (→ Abschnitt 1.3 mit Hypothese 3) funktionell ungünstig verändern (→ Abschnitt 1.2 mit den Hypothesen 1 und 2).
Vor allem die ersten beiden Hypothesen sind noch nicht ausreichend exakt formuliert. Kennzeichen von Dysfunktionalität sind komplex und können die gesamte Reizverarbeitungskette betreffen. Es ist daher noch zu klären, was „funktionell ungünstig verändern“ in diesem Zusammenhang bedeutet.
Bei einer neurologischen Erkrankung befinden sich funktionale Störungen nicht überall auf einem einheitlichen Niveau, eine solche Annahme ist unrealistisch. Sie sind eher durch unterschiedliche Zustände gekennzeichnet. Diese können ‑ zumindest theoretisch ‑ einer Skala zugeordnet werden, und reichen von „leichten Einschränkungen der Zellaktivitäten“ bis „Zelltod“. Auch andere neuronale Leistungsmerkmale ‑ wie Neuronenvernetzung oder Zelldichteanforderungen ‑ spielen bei der Informationsverarbeitung entscheidende Rollen. Eine vollständige Definition eingeschränkter neuronaler Leistungsfähigkeit sollte auch diese Merkmale umfassen:
Die Merkmale können auch nicht unabhängig voneinander sein. Ungünstige Aktivitätsveränderungen einzelner Neuronen wirken sich aufgrund der Vernetzung auf andere Neuronen negativ aus. Auch für zeitliche Abhängigkeiten spricht vieles. Die Entwicklung ist daher mit großer Wahrscheinlichkeit durch einen kontinuierlichen Prozess gekennzeichnet, der mit leichten Störungen einzelner Zellen beginnt und mit deren komplettem Verschwinden endet und drei Stufen umfasst (→ Abbildung 4).
ABBILDUNG 4: DREI-STUFEN-BASISMODELL
Abbildung 4: Auf Stufe 0 weisen Neuronen (und Gliazellen) ausreichende Zellfunktionen und Zellendichte bzw. -anzahl auf, die Neuronen sind ausreichend vernetzt. Stufe 1 zeigt erste Aktivitätsstörungen der grau markierten Zellen, was sich in verschiedenen nach außen sicht- oder messbaren Störungen zeigen kann. Die Verbindungen zu anderen Nervenzellen sind noch stabil. Auf Stufe 2 gehen Neuronenverbindungen nach und nach verloren. Auf Stufe 3 stirbt ein Teil der Zellen ab, womit auch deren restliche Verbindungen verloren sind, das System ist sichtbar reduziert.
Das Drei‑Stufen‑Basismodell konkretisiert die einfachen Erklärungen der Hypothesen 1 und 2 eindrücklich, ist aber immer noch eine vereinfachte Darstellung eines degenerativen Veränderungsprozesses. Zum Verständnis realer Situationen sind einige Ergänzungen notwendig:
Die Verbindung von Drei-Stufen-Basismodell mit funktionaler Gehirnlandkarte ergibt ein vollständiges Kausalmodell:
Affekterkrankungen ‑ wie Depression, Manie oder Bipolarität ‑ beruhen auf den im Drei‑Stufen‑Basismodell beschriebenen Funktionsstörungen von Neuronen und Gliazellen in den Affekte verarbeitenden Hirnarealen, wobei drei Kategorien von Arealen nach dem geschätzten Grad ihrer Beteiligung (stark, weniger und gering involviert) unterschieden werden.
Stark involvierte Areale sind Gyrus cinguli, Hippocampus, Fornix und Amygdala.
Weniger involvierte Areale sind Basalganglien, Thalamus und Assoziationsareal.
Gering involvierte Areale sind Hypothalamus-Hypophysen-Achse, Epiphyse und Mittelhirn.
Das aufsteigende, retikulär-aktivierende System (ARAS) der Formatio reticularis verbindet die Affekte verarbeitenden Hirnareale miteinander. Daher ist auch die Beteiligung eines dysfunktionalen ARAS am Erkrankungsprozess wahrscheinlich.
Die Hypothesen erfüllen aufgrund weniger Annahmen die Anforderungen des wissenschaftlichen Sparsamkeitsprinzips, auch als „Ockhamsches Rasiermesser-Prinzip“ oder Prinzip der Parsimonie bezeichnet, nach der die Wahrscheinlichkeit des Zutreffens einer Theorie mit ihrer Einfachheit steigt unter der Voraussetzung, dass diese Einfachheit nicht unangemessen gesteigert wird: So wenig wie möglich und so viel wie nötig.
Wenn es gelänge, bekannte Charakteristiken Affektiver Störungen auf der Basis des Kausalmodells zumindest grob nachzuvollziehen, wäre das ein erster Hinweis auf die Plausibilität der Hypothesen. Beispielhaft soll das nun anhand folgender Merkmale erfolgen:
Die Analysen sind auch hier wieder grundlegend ohne zu sehr ins Detail zu gehen, die Erklärungen und Modelle dementsprechend bewusst einfach formuliert bzw. konstruiert und zeigen nur die grobe Richtung auf. Auch hier ist Ockhams Rasiermesserprinzip der vorgegebene Rahmen.
Der Fachbegriff Psychosomatik ist eine Kombination der Begriffe Psyche und Körper (griechisch sṓma). Die Psychosomatik beschäftigt sich mit Zusammenhängen und Wechselwirkungen zwischen Psyche und Körper. Ungelöst ist in vielen Fällen die Frage, wie diese Zusammenhänge zu begründen sind.
Hinweise darauf, dass sich Wechselwirkungen aufgrund hirnorganisatorischer Zusammenhänge ergeben, kann der kausaltheoretische Ansatz geben, denn die funktional bewertete Gehirnlandkarte (→ Abbildung 3) legt eine Organisation in drei übergeordnete Funktionsbereiche nahe, wobei der dritte für die Affektsteuerung zuständige Funktionsbereich eine Besonderheit aufweist:
Diese spezielle Organisation des Gehirns sagt sehr viel aus über potentielle Zusammenhänge zwischen Affekten, affektiven Erkrankungen und körperlichen Symptomen:
Dass Affektverarbeitung und die Steuerung körperlicher Funktionen zu einem großen Teil in denselben Hirnstrukturen stattfinden, bildet auf der hirnorganischen Ebene genau das umgangssprachlich als „Verbindung von Körper und Seele“ bezeichnete Phänomen ab. Hier können Körperreaktionen bzw. Körperstörungen auf den affektiven Bereich übertragen werden und umgekehrt.
Darüber hinaus sind beide Hirnbereiche durch übergeordnete netzartige Strukturen, wie der Formatio reticularis, miteinander verknüpft ‑ und schaffen damit weitere „Verbindungen von Körper und Seele“.
Die Erklärungen für Zusammenhänge zwischen körperlichen und psychischen Phänomenen sind auf hirnorganischer bzw. -organisatorischer Ebene damit eigentlich trivial. Dass das kausaltheoretische Modell eine so einfache Erklärung zulässt, ergibt sich auch aus der Anwendung von Ockhams Parsinomieprinzip.
Das Modell kann psychosomatische Zusammenhänge sogar ohne die Existenz komplexer Zusammenhänge zwischen Körper und Psyche erklären, denn danach könnten diese auch auf simplen, hirnorganisatorisch bedingten korrelativen Wechselwirkungen beruhen. Das bedeutet nicht automatisch, dass psychosomatische Phänomene ausschließlich auf diese Weise entstehen, aber vermutlich ein großer Teil von ihnen.
Die Abbildungen 5a und 5b veranschaulichen die dreiteilige Struktur des Gehirns mit ihren jeweiligen räumlich‑funktionellen Überschneidungen zwischen der Steuerung kognitiver, affektiv-emotionaler und körperlicher Funktionen.
ABBILDUNGEN 5 A/B: DAS AFFEKTIVE GEHIRN ALS BRÜCKE ZWISCHEN KÖRPER UND BEWUSSTSEIN
Abbildungen 5a und 5b: Der Affekte/Emotionen verarbeitende dritte Funktionsbereich (schraffiert) befindet sich in der Gehirnmitte, wobei dessen oberen bzw. unteren Areale auch dem jeweiligen angrenzenden oberen (ersten) bzw. unteren (zweiten) Funktionsbereich zugeordnet werden. Abbildung 5b unten verdeutlicht die Zusammenhänge schematisch. Aus funktionellen Überschneidungen ergeben sich Konsequenzen für das Zusammenspiel zwischen Körper und Psyche und begründen psychosomatische Zusammenhänge auf der Ebene des zentralen Nervensystems. Die Formatio reticularis verknüpft alle drei Funktionsbereiche zusätzlich und schafft dadurch eine weitere Verbindung zwischen Körper und Psyche.
Bei der mit körperlichen Beschwerden einhergehenden larvierten Depression (synonym maskierte oder somatisierte Depression) handelt es sich um einen psychosomatischen Spezialfall. Die kausaltheoretischen Modelle helfen hier auf ähnliche Weise wie im vorhergehenden Abschnitt.
Leider werden parallele körperliche Beschwerden bei psychiatrischen Grunderkrankungen häufig einseitig psychologisch gedeutet und dem Patienten unterstellt, er verstecke dahinter seine Unfähigkeit, psychische Probleme zu erkennen. Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist ein Text über die larvierte Depression auf einem medizinischen Fachportal aus Österreich: „Bei vielen depressiven Patienten stehen unspezifische somatische Beschwerden im Vordergrund. «Diese Patienten klagen über Rückenschmerzen oder gastrointestinale Symptome, sprechen aber nicht über eine depressive Symptomatik. Aus ihrer Befindlichkeit und ihrem Verhalten ist auch nicht erschließbar, dass letztendlich eine Depression die Ursache dieser Symptome ist», erklärte Müller-Spahn das Konzept der larvierten Depression. (...) Laut einer epidemiologischen Untersuchung an der Psychiatrischen Klinik Basel leiden zwischen 5 und 10% der depressiven Patienten an einer larvierten Depression und etwa 50% der Hausärzte berichten, dass depressive Patienten mit einer solchen Symptomatik in der Praxis vorstellig werden. Gründe dafür sind einerseits, dass Betroffene nicht über Depression sprechen möchten, und andererseits, dass sie die zugrunde liegende Störung nicht erkennen. Das Konzept der larvierten Depression wurde in den 70er Jahren von dem Basler Psychiater Kielholz entwickelt. Dabei wurde auch versucht, ein Ranking der somatischen Symptome zu erstellen, an dessen erster Stelle die Schlafstörungen standen. Schlafstörungen bei Depressionen weisen ein charakteristisches Symptommuster mit frühmorgendlichem Erwachen, Zwangsgrübeln, massiver Hoffnungslosigkeit und erhöhtem Suizidrisiko in den frühen Morgenstunden auf. Dazu kommen Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Obstipation und Gewichtsverlust. «Das sind scheinbar ganz unspezifische Symptome, die für sich genommen keine diagnostische Relevanz haben, aber einen Hinweis auf die Depression geben können, wenn keine somatischen Ursachen zu finden sind», erklärte Müller-Spahn. (...) Das Konzept, dass somatische Störungen eine Depression derartig überlagern können, dass die zugrunde liegende Erkrankung nicht mehr erkennbar ist, ist zumindest seit den 1920er Jahren bekannt. So hat bereits Bleuler den Begriff 'somatisierte Depression' geprägt, unter dem er eine endogene Depression verstand, bei der sich Patienten spontan nur mit somatischen Symptomen in der Sprechstunde präsentieren und deren depressiver Gemütszustand erst nach geeigneten Fragen offensichtlich wird. Im anglo-amerikanischen Sprachraum war von der 'physical form of depression', 'hidden depression' oder 'masked depression' die Rede, wobei letzterer Begriff sich zum weltweit am häufigsten verwendeten entwickelte. Weit verbreitet waren auch die Termini 'vegetative Depression' beziehungsweise 'vegetative Dystonie' als Sammelbegriffe für Phänomene erhöhter autonomer Reagibilität, diese jedoch nicht wirklich fassbar machten. Müller-Spahn: «Das Charmante am Konzept der larvierten Depression war, dass es eine klare therapeutische Konsequenz hatte. Hinter dieser vielgestaltigen Phänomenologie verbirgt sich eine Depression, die mit Antidepressiva zu behandeln ist.»“ (Quelle: Die larvierte Depression: wenn sich die Seele hinter dem Körper verbirgt, Webportal der Universimed Cross Media Content GmbH, Wien/Österreich, http://neurologie‑psychiatrie.universimed.com/...).
Es ist zweifellos wichtig, Schilderungen körperlicher Beschwerden bei einer parallel verlaufenden Affektstörung zu hinterfragen. Es ist aber fragwürdig zu glauben, einem Patienten mit einer larvierten Depression müsse lediglich ein antidepressiv wirkendes Medikament verabreicht werden, um die Probleme zu lösen. Es sollte auch nicht einseitig eine Depression als Ursache körperlicher Beschwerden gedeutet werden oder das Bündel körperlicher Symptome vulgärpsychologisch missdeutet werden als sei es Ausdruck dessen, dass „sich die Seele hinter dem Körper verbirgt“.
Kausal ist auf hirnorganischer Ebene eher von einer Korrelation zwischen depressiver und körperlicher Symptomatik auszugehen, bei denen beide Formen real existieren und primär aus Fehlfunktionen von Hirnarealen resultieren, die für körperliche als auch psychiatrische Beschwerden verantwortlich sind (→ Abbildungen 5).
Eine vergleichbare Sicht der larvierten Depression scheint sich durchzusetzen, interessant ist hier ein Eintrag des Webportals doccheck.com zur Pathophysiologie: „In neurobiologischen Untersuchungen konnte der Nachweis erbracht werden, dass somatische Symptome mit Hirnfunktionsstörungen korrelieren, die auch für die Depression verantwortlich sind. So konnte in Untersuchungen gezeigt werden, dass psychischer und emotionaler Schmerz zu einer Aktivierung der gleichen Regionen wie physische Schmerzreize führen. Untersuchungen der Stressachse dokumentieren sowohl bei der Depression, als auch bei Schmerzen eine neuroendokrine Dysregulation der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse mit Überproduktion des Corticotropin-freisetzenden Hormons CRH, was die Parallelität funktioneller Veränderungen physiologischer Parameter in der Depression und bei Schmerzzuständen belegt.“ (Quelle: Pathophysiologie der larvierten Depression, Webportal der DocCheck Medical Services GmbH, Köln, http://flexikon.doccheck.com/...).
Eine endogene Depression ist eine heterogene Erkrankung mit individuellen Merkmalen, die sich von Patient zu Patient unterscheiden können (→ Abschnitt 1.1):
Symptomarten und Symptomanzahl lassen sich mit dem Begriff der Symptomvielfalt gemeinsam beschreiben.
Die Gründe dieser Symptomvielfalt ist nach den hier getroffenen Annahmen relativ einfach durch die Art (und Anzahl) betroffener affektrelevanter Hirnareale oder Teilen von ihnen nachzuvollziehen (→ Graphik 1).
GRAPHIK 1: BEGRÜNDUNG DER SYMPTOMVIELFALT EINER AFFEKTIVEN ERKRANKUNG
Graphik 1: Mit der Anzahl involvierter Hirnareale steigt tendenziell auch die Anzahl der wahrgenommenen Symptome. Ein Symptom entsteht, wenn die betroffene Hirnstruktur nicht mehr zur Regulation der betreffenden Funktion in der Lage ist.
Die Schweregrade einer Affektstörung (leicht, mittelgradig, schwer und schwerst) beschreiben im hier diskutierten Zusammenhang Fähigkeiten zur Gestaltung des Tagesablaufs während einer akuten Erkrankungsphase (→ Abschnitt 1.1). Von außen betrachtet lassen sich diese Fähigkeiten anhand objektiver Anhaltspunkte auf den ersten Blick gut einschätzen.
Der subjektiv empfundene Leidensdruck kann von der sichtbaren Situation jedoch abweichen und erheblich höher sein, als dies rein äußerlich den Anschein hat, aber auch der umgekehrte Fall ist möglich. Zur besseren Einschätzung ist eine persönliche Befragung Betroffener daher anzuraten. Auf jeden Fall ist eine differenzierte Betrachtung beider miteinander korrelierender Merkmale gerechtfertigt.
Es liegt nahe ‑ unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen ‑ einen Zusammenhang zwischen Erkrankungsintensität bzw. Leidensdruck auf der einen Seite und der Art und Weise von Veränderung des Zentralnervensystems auf der anderen Seite herzustellen. Dysfunktionale Hirnstrukturen des Funktionsbereichs 3 (Affektsteuerung) und die Merkmale Erkrankungsintensität bzw. Leidensdruck stehen in einem Zusammenhang, der einen kausalen Charakter hat:
Erkrankungsintensität und Leidensdruck werden zusätzlich von der Persönlichkeit Betroffener beeinflusst. Beide Merkmale sind zwischen zwei Personen nicht direkt vergleichbar, auch nicht anhand theoretisch (aber praktisch unmöglich) zu messender Daten.
Zusätzlich zur nervlichen Situation des Funktionsbereichs 3 spielt demnach der Gehirnfunktionsbereich 1 eine weitere Rolle, der Bewusstsein, Handeln und Persönlichkeit bestimmt. Das leitet über zum Phänomen der Resilienz.
Der Begriff der Resilienz erfreut sich schon länger großer Beliebtheit. Resilienz bedeutet Widerstandsfähigkeit. In der Psychologie wird Resilienz als die Fähigkeit bezeichnet, eine persönliche Krise bewältigen zu können, ja eventuell sogar gestärkt aus ihr herauszukommen. Das Gegenteil von Resilienz ist die mit dem Fachbegriff der Vulnerabilität umschriebene Verletzlichkeit. Auf den ersten Blick scheint es schwierig, derart komplexe Charaktereigenschaften umfassend definieren und begründen zu wollen.
Es gibt den Versuch, die Voraussetzungen für Resilienz anhand von sieben „Säulen der Resilienz“ einzugrenzen, wobei deren Vollständigkeit und Widersprüche hier nicht zur Diskussion stehen. Sie sollen als Grundlage dienen, potentielle Resilienz-Voraussetzungen unter dem Aspekt einer affektiven Erkrankung zu betrachten. Sie lauten:
Diese sieben Aussagen sind vor allem im Hinblick auf an Affektstörungen erkrankte Menschen von Bedeutung. Ohne zu verallgemeinern verfügen sie tendenziell eher nicht über diese Merkmale. Affektive Störungen sind vor allem durch Vulnerabilität charakterisiert. Aber es gibt Menschen, die trotz Erkrankung erstaunlich gut funktionieren und resiliente Eigenschaften zu haben scheinen. Wie passt das alles unter einen Hut?
Mit Hilfe von funktional bewerteter Gehirnlandkarte (→ Abbildung 3) und Drei‑Stufen‑Basismodell (→ Abbildung 4) lassen sich auf hirnorganischer bzw. -organisatorischer Ebene sowohl Vulnerabilität und Resilienz als auch Mischformen begründen:
Eine kausaltheoretische Beurteilung von Vulnerabilität und Resilienz ausschließlich hinsichtlich der Funktionsfähigkeit der zentralnervösen Affektverarbeitung ist unvollständig, denn kognitive Einflüsse blieben dabei unberücksichtigt. Auch Persönlichkeit, Intellekt und die bewusste Handlungssteuerung beeinflussen die Ausprägungen beider Eigenschaften (→ Abbildung 3):
Graphik 2 zeigt, wie das Zusammenspiel zweier Hirnfunktionsbereiche auf der organisch-organisatorischen Ebene resiliente bzw. vulnerable Eigenschaften mitbestimmt. Es ist zu beachten, dass es sich hier um ein relativ grobes Modell handelt. Es soll auch nicht bedeuten, dass Resilienz und Vulnerabilität ausschließlich von der Situation im Gehirn abhängen und dass es keine anderen Einflüsse gibt. Aus kausaltheoretischer Perspektive handelt es sich jedoch um sehr bedeutende Einflüsse, die vermutlich bei allen Menschen eine Rolle spielen.
GRAPHIK 2: KAUSALTHEORETISCHES RESILIENZ-VULNERABILITÄTS-MODELL
Graphik 2: Das auf den kausaltheoretischen Annahmen basierende Resilienz-Vulnerabilitäts-Modell zeigt auf vereinfachende Form, wie die individuellen Ausprägungen der Merkmale auf der hirnorganischen bzw. hirnorganisatorischen Ebene mitbestimmt werden. Menschen mit einer ausreichend intakten Affektsteuerung im Funktionsbereich 3 und einer hohen kognitiven Kompetenz durch einen intakten Funktionsbereich 1 gehören tendenziell eher zu den resilienten Persönlichkeiten. Von ausgeprägteren Formen ist im linken unteren und rechten oberen Quadranten auszugehen. In den anderen Bereichen liegen tendenziell eher Mischformen vor bzw. hier sind genaue Aussagen eher schwierig.
Fragen nach der Selbstbestimmung können erst später beantwortet werden: Ist Vulnerabilität Schicksal? Ist Resilienz Schicksal oder kann sie nur aktiv erarbeitet werden? Um plausibel argumentieren zu können, muss das Kausalmodell dazu noch in einen multifaktoriellen Zusammenhang gebracht werden (→ Kapitel 4).
Chronifizierung bezeichnet den Übergang einer vorübergehenden zur dauerhaften Erkrankung bzw. eines sporadisch auftretenden zum ständig präsenten Symptom. Wie bei der Erkrankungsintensität sind bei der Ursachendeutung Drei‑Stufen‑Basismodell und funktional bewertete Gehirnlandkarte hilfreich:
Wie schnell oder wie intensiv eine Chronifizierung verläuft, ist vom Einzelfall abhängig, hier spielen viele - auch unbekannte - Einflüsse eine Rolle. Diese Einflüsse könnten Symptomanzahl, Art der Symptome, die Persönlichkeit des Betroffenen (und damit auch seine kognitive Verfassung) oder periphere Einflüsse von außerhalb des Zentralnervensystems sein. Die Frage, ob und wie Symptomanzahl oder die Art der Symptome die Chronifizierungstendenz genau beeinflusst, ist aber auch mit Hilfe der Modelle nicht eindeutig zu beantworten.
Das Phänomen der Chronifizierung lässt sich mit den Modellen nur grob beschreiben und Graphik 3 zeigt genau das. Die verschiedenen Graphen in unterschiedlichen Farben stellen personenbezogene, individuelle Verläufe dar. Sämtlichen Verläufen gemein ist aber die Steigerung der Chronifizierungstendenz bei degenerativem Verlauf.
GRAPHIK 3: CHRONIFIZIERUNG UND DREI-STUFEN-BASISMODELL
Graphik 3: Die Gefahr der Chronifizierung eines Symptoms (bzw. Symptombündels) aus dem Spektrum affektiver Erkrankungen steigt tendenziell mit dem Grad an Degeneration der verantwortlichen Hirnregion und ist bei Stufe 3 am höchsten. Die Verläufe können von Fall zu Fall abweichen, was die verschiedenen Graphen beispielhaft verdeutlichen und sind wahrscheinlich von zahlreichen Faktoren abhängig, beispielsweise vom individuellen Symptomen-Mix der/des Betroffenen oder dessen allgemeiner gesundheitlichen Verfassung.
Nach diesen allgemeinen Betrachtungen der Chronifizierung soll das Phänomen auf gleicher theoretischer Grundlage nun realitätsnaher an einem potentiellen Erkrankungsverlauf diskutiert werden:
Die Entwicklung einer Depressionserkrankung kann also gekennzeichnet sein durch eine beginnende depressive Verstimmung, die sich zur reaktiven Depression ausweitet, um schließlich in einer (endogenen) Depression zu enden. Potentielle Mechanismen dieses Prozesses auf der Ebene des Zentralnervensystems werden auch bei diesem praktischen Beispiel mit dem Drei‑Stufen‑Basismodell nachvollziehbar:
Weitere Einflüsse, beispielsweise Anzahl der Symptome, Symptomarten oder Allgemeinzustand, sind zu berücksichtigen. Die mit Graphik 3 verdeutlichten Zusammenhänge gelten hier also ebenfalls.
Die im vorhergehenden Abschnitt durchgeführten Prüfungen anhand verschiedener charakteristischer Erkrankungsmerkmale haben Aussagekraft, muten aber eher theoretisch an. So wären nachgewiesene Hirnstrukturveränderungen mittels bildgebender Verfahren jenen theoretischen Prüfungen überlegen, liegen sie schließlich „schwarz auf weiß“ vor.
Die konservative psychiatrische Forschung scheint seit einigen Jahren etwas aus ihrem Dämmerschlaf zu erwachen. Es wurden erste Studien erstellt, die einen Zusammenhang zwischen einer Depression und funktionellen bzw. strukturellen Hirnveränderungen aufspüren sollen. Im Verdacht stehende Hirnareale wurden mit Hilfe von PET‑, fMRT- und MRT‑Technologien untersucht. Es sind vor allem die Strukturen des linken und rechten Hippocampus, des Mandelkerns, der Basalganglien, bestimmter Cortex‑Regionen und des Zwischenhirns, um die sich die Mediziner bemühen und die auch kausaltheoretisch als erkrankungsrelevant gelten.
Bei der Bewertung der Untersuchungsergebnisse sind die Ungenauigkeiten aller drei Verfahren zu berücksichtigen. Sie sind vergleichbar mit kleinen Teleskopen, die auf den Mond gerichtet werden und nur grobe Strukturen auflösen. Im Gehirn entscheiden aber schon kleinste Veränderungen über Funktionalität bzw. Dysfunktionalität.
Gerade bei der MRT‑Methode können maximal Grobstrukturen abgebildet werden. Ebenfalls liegen keine Langzeituntersuchungen zwecks Vergleichs vor. Funktionelle Veränderungen ohne Strukturveränderungen sind mit einer MRT überhaupt nicht zu erkennen. Weiter ist bekannt, dass abgestorbene Neuronen bei Hirnstrukturerkrankungen durch Gliastützzellen ersetzt werden, die für die Reizverarbeitung keine Rolle spielen, beispielsweise beim Alkoholismus. Derartige Veränderungen sind mit einer MRT aber überhaupt nicht erkennbar und erst im Rahmen einer Gewebeuntersuchung nach dem Tode feststellbar. Daher kann davon ausgegangen werden, dass ein Großteil der krankhaften Veränderungen mit der MRT nicht bemerkt werden, sozusagen „unter dem Radar“ bleiben.
Die fMRT reagiert lediglich auf Durchblutungsveränderungen und bildet neuronale Aktivitäten nur indirekt ab. Ähnliches gilt für die PET, die ausschließlich den Abbau von Glukose sichtbar macht.
Wird also bedacht, dass viele neurologische Veränderungen mit den Verfahren derzeit gar nicht festzustellen sind, ist es umso bemerkenswerter und aussagekräftiger, wenn Veränderungen mit den grobschlächtigen Verfahren überhaupt nachweisbar sind.
Die Studien von Sheline et al. an depressiven Patienten aus den Jahren 1996 bis 1999 und weitere stellten signifikante Volumenminderungen des linken und rechten Hippocampus fest. Mehrere Studien weisen Atrophien des frontalen und präfrontalen Cortex nach, ebenso Volumenminderungen im Gyrus cinguli.
Untersuchungen der Amygdala lieferten unterschiedliche Resultate. Sie reichen von Volumenzunahme (Weniger et al. 2006 bzw. Frodl et al. 2002) oder Volumenabnahme (Sheline et al. 1998 bzw. Strakowski 2002) bis zu Veränderungen der Symmetrie.
Interessant ist hier die Volumenzunahme. Eine solche ist auf den ersten Blick im Drei‑Stufen‑Basismodell zwar nicht vorgesehen, steht damit aber auch nicht im Widerspruch. Derartige Veränderungen werden im Zusammenhang mit einer Affektstörung zwar selten festgestellt und es könnte sich dabei um ein relativ kurzfristiges Phänomen handeln, bei der sich ein relevantes Hirnareal zunächst aufgrund negativer Einflüsse vergrößert. Vielleicht sind auch Situationen denkbar, bei denen eine Volumenzunahme ähnliche Auswirkungen hat wie eine Volumenabnahme oder die Vergrößerung ist eine Reaktion auf degenerative Vorgänge in anderen, ebenfalls Affekte verarbeitenden Hirnarealen. Solche Differenzierungen müssen im Modell nicht berücksichtigt werden, denn sie ändern nichts Grundsätzliches, denn auch die Volumenzunahme ist eine Abweichung von der Norm.
Eine über drei Jahre angelegte Dissertationsstudie der LMU München (Quelle: Palladino 2009) ergab, dass „(...) sich bezüglich des Amygdala-Volumens zeigte, dass Patienten mit rezidivierenden depressiven Episoden dann symptomfrei blieben, wenn sie ein signifikant größeres Amygdala-Volumen besaßen als Patienten, die sich in einem nicht-remittierten Zustand befanden. (...) Das Alter korrelierte mit einem erniedrigten Volumen der rechten und linken Amygdala.“ Auf jeden Fall konnte „kein signifikant größeres Amygdala-Volumen bei depressiven Patienten verglichen mit gesunden Probanden festgestellt werden.“.
Ebenfalls sind Volumenminderungen der Basalganglien im Zusammenhang mit depressiv Erkrankten nachgewiesen worden (Krishnan et al. 1992).
Eine Untersuchung aus dem Jahr 2004 analysierte 12 Studien, die eine Reduzierung der Hippocampi-Volumina mit unterschiedlichen Intensitäten bestätigten, die sich in ihren Voraussetzungen (Alter, Geschlecht, Krankheitsbeginn und -verlauf) stark unterschieden. Die Metastudie ergab, dass die Hippocampi der von einer unipolaren Depression Betroffenen im Schnitt eine Volumenminderung von 8% auf der linken und 10% auf der rechten Seite aufwiesen. Darüber hinaus ergaben die Auswertungen eine positive Korrelation der Volumenminderungen des rechten Hippocampus mit der Anzahl der depressiven Phasen (Quelle: Videbech/Ravnkilde 2004).
Sogar globale Volumenminderungen des Gehirns sind nachweisbar, wenn auch nicht mit einer großen Signifikanz, wie eine andere an der LMU München durchgeführte Dissertationsstudie herausfand. Für die Gruppe von Patienten mit einer Major Depression „(...) konnte eine leicht erhöhte (...) und in der Varianz verbreiterte globale Atrophierate nachgewiesen werden (...)“. Weiter heißt es: „Es ergaben sich Hinweise, dass bipolare Patienten sowie Patienten mit schweren Verläufen, gemessen an Suizidalität und psychotischem Erleben, möglicherweise erhöhte globale oder temporomesiale Atrophieraten aufweisen. Ob diese Veränderungen im Rahmen schwerer Episoden mit protrahierter Stresshormon-Dysregulation auftreten oder ob vorher oder parallel ablaufende Umbauvorgänge diese Krankheitsverläufe begünstigen, sollte durch prospektive Studien untersucht werden.“ (Quelle: E. Golgor 2009).
Interessant sind die PET- und fMRT-Technologien und deren Nachweise funktioneller Veränderungen im Hirnstoffwechsel, da sie neben der These über die Beteiligung bestimmter Gehirnregionen an der Erkrankung ebenfalls die Aussagen über die ersten beiden Stufen des Drei‑Stufen‑Basismodells stützen.
Studien der Universitätsklinik Wien für Psychiatrie und Psychotherapie, die u. a. mit Hilfe der PET-Technologie durchgeführt wurden, stellten generell Veränderungen im präfrontalen Cortex und im emotionalen System fest (Quelle: CliniCum, Mag. Silvia Hecher 2009, www.clinicum.at):
Bestätigt werden die kausaltheoretischen Aussagen ebenfalls durch die Ergebnisse der Wiener Wissenschaftler bei der Beobachtung des Krankheitsverlaufs. So stellten sie fest, dass die Hippocampi bei anhaltender Erkrankung immer mehr an Größe verlieren. Die Entdeckung steht im Einklang mit der unterstellten zeitlichen Abfolge beim Drei‑Stufen‑Basismodell, denn dort kommt es in letzter Konsequenz auf Stufe 3 zu einem Abbau von Neuronen und Gliazellen, der sich bei andauernder Erkrankung weiter fortsetzt.
Ebenfalls ergaben die Analysen, dass die Wahrscheinlichkeit eines Verschwindens der Symptome (Remission) mit zunehmender Größe der Hippocampi steigt.
Auch degenerative Veränderungen von Gliazellen geraten in der letzten Zeit in Zusammenhang mit der Ursachenforschung erfreulicherweise in den Fokus der Psychiatrie. Untersuchungen an Verstorbenen haben gezeigt, dass die Gliazellendichte bei depressiv Erkrankten wesentlich reduziert ist. In einer anderen Untersuchung wurde ein signifikanter statistischer Zusammenhang zwischen der abnehmenden Dichte von Mikroglia und Fällen von vollzogenen Selbstmorden festgestellt (Quelle: F.A.Z. vom 3.12.2009).
In ihrer Dissertation aus dem Jahre 2002 beschreibt die Psychologin Jennifer Uekermann verschiedene neuropathologische Veränderungen bei einer unipolaren Depression, der hier zum Abschluss noch zitiert werden sollen. Die Autorin bezieht sich auf verschiedene Untersuchungen, die weitere interessante Belege für die vermuteten Kausalzusammenhänge zwischen funktionalen und strukturellen Hirnveränderungen und einer Affektstörung sind: „Um die Frage nach Dysfunktionen umschriebener Hirngebiete bei depressiven Erkrankungen zu untersuchen, wurden in den letzten Jahren Studien mithilfe von EEG- und bildgebenden Verfahren wie der Positronenemissionstomographie durchgeführt (vgl. Uekermann & Daum, 2000). Dabei fanden sich übereinstimmend Funktionsstörungen im Frontalhirn der linken Hemisphäre. Auch Analysen des Spontan-EEGs zeigten bei Depressiven eine verminderte linksfrontale Aktivierung. Für eine Funktionsstörung der linken Hemisphäre spricht ebenso die Tatsache, dass depressive Symptome weit häufiger nach links- als nach rechtshemisphärischer Läsion auftreten (Robinson et al., 1984). In den letzten Jahren ist in verschiedenen morphometrischen Studien ein vermindertes Volumen des frontalen Kortex (Drevets et al., 1997), des Nucleus caudatus (Krishnan et al., 1992), Putamen (Husain et al., 1991), der Hypophyse (Axelson et al., 1992), des Hippocampus (Bremner et al., 2000) und der Amygdala (Sheline et al., 1998) festgestellt worden. In Post-mortem-Studien wurde außerdem ein reduziertes Volumen des orbitofrontalen und dorsolateralen präfrontalen Kortex gefunden (Rajkowska et al., 1999; Ongur et al., 1998; Rajkowska, 2000; Sheline, 2000). Aktivierungsstudien zeigen einen reduzierten Blutfluss und eine verminderte Stoffwechselaktivität im medialen frontalen und im lateralen präfrontalen Kortex, im Zingulum und im Nucleus caudatus (Baxter et al., 1989; Baxter et al., 1985; Dolan et al., 1992; Bench et al., 1992; Cummings et al., 1993a; Devinsky et al., 1995). Dabei geht eine Verbesserung der klinischen Symptomatik mit einer Aktivierungszunahme in einigen betroffenen Regionen einher (Bench et al., 1995), während die Abnormalitäten im orbitalen und medialen präfrontalen Kortex bestehen bleiben (Drevets, 2000). Setzt man die gefundenen Aktivierungsminderungen mit kognitiven Variablen in Beziehung, bestätigt sich der Befund, dass vor allem der präfrontale Kortex eine wichtige Rolle für kognitive Funktionen bei Depressionen spielt (Dolan et al., 1994). Dafür spricht auch die Untersuchung von Bench et al. (1993), die über eine negative Korrelation zwischen der Stärke der Depression und dem regionalen Blutfluss im linken dorsolateralen präfrontalen Kortex und eine positive Korrelation zwischen kognitiven Leistungen und dem Blutfluss im linken frontalen medialen Kortex berichtete. Außerdem führt eine medikamentöse, antidepressive Therapie zu einer Erhöhung des Blutflusses im Frontallappen und Gyrus Cinguli (Buchsbaum et al., 1997). Die Minderaktivierung des medialen präfrontalen Kortex ist bei Depressiven u. a. deshalb von Bedeutung, da diese Region einen Teil des Belohnungssystems darstellt. Über einen verminderten Blutfluss in posterioren Arealen der linken Hemisphäre im Bereich des Gyrus angularis wurde ebenfalls berichtet, doch diese Aktivierungsminderung änderte sich nicht in Abhängigkeit von der Besserung der klinischen Symptomatik (Bench et al., 1995). Von besonderer Bedeutung für die neuropathologischen Veränderungen im Rahmen depressiver Erkrankung ist die Glukokortikoid-Hypothese. Dabei wird angenommen, dass die stressbedingte Ausschüttung von Cortisol zu einer Schädigung hippocampaler Neurone und einer nachfolgenden Hippocampus-Atrophie führen kann (Duman et al., 2000; Fujita et al., 2000; Sapolsky, 1992; vgl. Daum & Suchan, 2001).“ (Quelle: Jennifer Uekermann, Kognitive Veränderungen bei Alkoholismus und Depression, Inaugural-Dissertation, Fakultät für Psychologie der Ruhr-Universität Bochum, Bochum 2002, https://api.deutsche‑digitale‑bibliothek.de/binary/...).
Auf die Problematiken hinsichtlich Sensibilität und Genauigkeit bildgebender Verfahren wurde schon hingewiesen. Gehirnautopsien haben zumindest gegenüber dem MRT-Verfahren Vorteile: Hirnstrukturveränderungen können mit histopathologischen Untersuchungen häufig exakter bestimmt werden. Die (nur nach dem Tode durchzuführenden) Untersuchungen sind allerdings ausschließlich forschungsrelevant.
An dieser Stelle soll ‑ um Redundanzen zu vermeiden ‑ auf Kapitel 4 B verwiesen werden, in dem über Beispiele postmortaler Diagnostik berichtet wird. Dabei geht es um die Chronisch‑traumatische Enzephalopathie (CTE), wegen der in den letzten Jahren vermehrt Gehirnautopsien vor allem an verstorbenen Footballspielern in den USA durchgeführt wurden (→ Abschnitt 4.13.4 in Kapitel 4 B). Bei einer Erkrankung an CTE stehen häufig massive Veränderungen von Affekten und Persönlichkeit als Symptome im Vordergrund, die wahrscheinlich auf den CTE‑bedingten Veränderungen des Gehirns beruhen und mit häufigen Kopftraumata, vor allem bei den sogenannten Gefahrensportarten, ursächlich in Zusammenhang gebracht werden.
In den letzten Jahrzehnten wurde bei vielen amerikanischen Berufssportlern CTE diagnostiziert, nachdem diese verhaltensauffällig wurden oder sich das Leben nahmen, teilweise auch mit erweitertem Suizid.
Das einfache Drei‑Stufen‑Basismodell (→ Abschnitte 1.4 f.) ist nur ein erster Schritt, die Phasen degenerativer Nervenerkrankungen plausibel nachzuvollziehen, denn es sagt nichts über die dahintersteckenden konkreten Verursacher. Die nächsten Ziele sind daher, in Frage kommende Auslöser zu identifizieren, zu analysieren und hinsichtlich ihrer Erkrankungsverursacherpotentiale zu bewerten. Grundlage und Ausgangspunkt hierfür ist Rudolf Virchows Zellpathologielehre.
Biologie und Medizin beruhen wesentlich auf grundlegenden Erkenntnissen über die Zellen als Einheiten des Lebens, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts ‑ zunächst von den Berliner Ärzten Robert Remak und Rudolf Virchow ‑ erarbeitet wurden. Rudolf Virchow erkannte als Erster, dass alle Leistungen des Körpers und seiner Organe auf den Leistungen der Zellen und ihrer Zusammenarbeit beruhen und legte im Jahre 1858 mit der Veröffentlichung seiner „Cellularpathologie“ die Grundlagen der Zellpathologielehre, nach der Krankheiten auf Zellstörungen beruhen. Seitdem hat sich die Zelltheorie rasant entwickelt, aber ihre Grundaussagen haben bis heute Bestand.
Auch im Drei‑Stufen‑Basismodell geht es um Zellgesundheit und Zellstörungen, beispielsweise die Fähigkeit bzw. Unfähigkeit von Hirnzellen, die Reizverarbeitung korrekt zu betreiben bzw. zu unterstützen.
Nach Rudolf Virchow sind die Leistungen eines Organs gleich den Leistungen der Gesamtheit seiner Zellen. Das bedeutet für das gesunde Nervensystem:
Es gilt auch der Umkehrschluss: Organerkrankungen beruhen auf dysfunktionalen Organzellen. Beim erkrankten Nervensystem arbeitet zumindest ein Teil der Zellen nicht korrekt:
Das Drei‑Stufen‑Basismodell stellt bisher ausschließlich funktionelle Aspekte der Reizverarbeitung in den Mittelpunkt. Zu den Leistungen von Nerven- und Gliazellen gehören aber auch alle inneren Zellprozesse, wie Energieversorgung oder Zellteilung. Zur Ursachenanalyse von Fehlentwicklungen ist es deshalb notwendig, das Basismodell um die Sicht auf innere Zellprozesse zu erweitern. Der Unterschied zwischen den Schlüsselbegriffen „Zellfunktion“ und „Zellprozess“ ist ab sofort zu beachten:
Zur Erinnerung: Das Basismodell berücksichtigt nach wie vor keine äußeren Einflüsse in Form zellschädigender exogener Noxen, denn zunächst müssen Zellschwachstellen unabhängig davon identifiziert und analysiert werden. Erst dann ist zu untersuchen, wie exogene Schadeinflüsse u. a. Zellschwachstellen nutzen und Zellen schädigen.
Auf Zellprozessen basiert der gesamte Zellbetrieb einschließlich der Zellfunktionen. Es besteht ein Kausalzusammenhang zwischen Prozessen und Funktionen:
Intakte Zellprozesse => Intakte Zellfunktionen
Fehlerhafte Zellprozesse => Fehlerhafte Zellfunktionen
Im Nervensystem bedeutet das:
Intakte Prozesse in Neuronen und Gliazellen => Intakte Reizverarbeitung
Fehlerhafte Prozesse in Neuronen und Gliazellen => Fehlerhafte Reizverarbeitung
Die prozessorientierte Sicht ermöglicht es, auch prozessuale Ursachen von Zell- und Organstörungen in den Blick zu nehmen.
In Wissenschaft und Medizin ist demgegenüber die funktionsorientierte Sicht die Regel. So stehen bei Ursachenforschung und Behandlungsstrategien affektiver Erkrankungen die Erforschung und Beeinflussung von Zellfunktionen im Mittelpunkt, beispielsweise in der Therapie der Depression: Psychopharmaka manipulieren die Reizübertragung in der Hoffnung auf Symptommilderung oder Heilung. Innere Zellprozesse, auf welchen die Funktionen eigentlich basieren, bleiben unberücksichtigt.
Erst seit wenigen Jahren sind hier leichte Veränderungen dieser Grundhaltung festzustellen. So beschäftigen sich Wissenschaftler zumindest in der Grundlagenforschung auch mit Störungen innerer Zellprozesse als mögliche Ursachen von Depressionserkrankungen, beispielsweise durch die Erforschung schädlicher oxidativer Zellprozesse.
Die therapeutische Zellfunktionsbeeinflussung ist bei affektiven Erkrankungen aber als gescheitert anzusehen, wie oben schon ausführlich dargelegt wurde, denn 2/3 der Patienten profitieren nicht oder nur ungenügend von den auf dem Markt befindlichen Medikamenten. Grund genug, über Behandlungsstrategieveränderungen nachzudenken.
Das bisher sehr kompakte funktionsorientierte Drei‑Stufen‑Basismodell wird nun detaillierter und auch unter Zellprozessaspekten interpretiert. Darüber hinaus erhält es eine Vorstufe bzw. Stufe 0, die durch einen funktionell intakten Zellverbund gekennzeichnet ist.
Zellprozesse und Reizverarbeitung sind störungsfrei: Reizentstehung, Reizweiterleitung und Reizübertragung verlaufen unauffällig. Die Unterstützung durch Gliazellen ist optimal. Nervenzellen sind ausreichend und bedarfsrecht vernetzt. Hirnregionen weisen eine ausreichende Dichte an Nerven- und Gliazellen auf. Das Gehirn ist in der Lage, bei Bedarf auch Nervenzellen zu bilden und für Ersatz zu sorgen (Neurogenese) bzw. bestehende Strukturen umzubauen und anzupassen (Neuroplastizität). Defekte Gliazellen werden ersetzt.
Erste unterschwellige latente Prozessstörungen sind möglich. Diese haben entweder keine Auswirkungen auf die Reizverarbeitung oder so geringe, dass sie ohne spürbaren Konsequenzen für Betroffene sind. Die unterschwelligen Veränderungen sind theoretisch messbar, was aber aufgrund von Ungenauigkeiten aller derzeit zur Verfügung stehenden Verfahren eher unwahrscheinlich ist.
Aufgrund von Prozessstörungen treten erste manifeste spürbare Reizverarbeitungsstörungen auf.
Die Veränderungen können technisch gemessen werden. Aber auch hier gilt: Die derzeitigen Verfahren sind immer noch zu grobschlächtig und ungenau. Vor allem das antik anmutende EEG, aber auch fMRT bzw. PET messen nur grob bzw. indirekt. Gerade erste Symptome bleiben daher häufig technisch unerkannt „unter dem Radar“ (→ Abschnitt 1.6). Das kann für Patienten mit neurologisch-psychiatrischen Symptomen problematisch sein, denn es besteht die Gefahr, dass ihre real existierenden Probleme nicht ernstgenommen oder als „psychisch“ bzw. „stressbedingt“ abgetan werden.
Die Störungen können sich im Laufe der Zeit intensivieren, führen aber nicht zu strukturellen Hirnveränderungen.
Zwei Funktionsstörungen sind zu unterscheiden: verminderte und erhöhte Reizverarbeitung.
Auf Stufe 1 lauern noch zwei weitere Gefahren:
Sind Prozessstörungen ‑ und damit auch Funktionsstörungen ‑ längerfristig, dauerhaft oder genügend stark, kann das zu einer Verringerung von Nervenverbindungen führen. Der Verbindungsabbau kann auf verschiedene Weisen erfolgen:
Bei weiter anhaltenden oder sehr schwerwiegenden Prozessstörungen kommt es zum Zelltod. Im günstigsten Fall werden die abgestorbenen Zellen als Zellschrott vom Immunsystem abgebaut, im ungünstigsten Fall führt der nicht abbaubare Zellschrott zu weiteren Problemen, beispielsweise Entzündungsreaktionen. Auch hier spielen Gliazellen eine wichtige Rolle, die als Bestandteile des Immunsystems für den Abbau von funktionslosem Zellschrott mitverantwortlich sind.
Ein Auffüllen der entstandenen Lücken mit für die Reizverarbeitung ungeeigneten Gliastützzellen ist denkbar. Strukturelle Veränderungen dieser Art sind mit einer MRT so gut wie nicht zu bewerten. Das kann zu erheblichen Fehleinschätzungen über die Regenerationsfähigkeit einer geschädigten Hirnregion führen. Die Aufnahmen der bildgebenden Verfahren zeigen nämlich nur eine vorgebliche strukturelle Erholung. Zwar ist das Auffüllen mit Gliastützzellen für die verbliebenen intakten Nervenzellen sinnvoll, sie ersetzen aber keinesfalls die verschwundenen Nervenzellen.
Derartige Strukturveränderungen sind nur post‑mortem mit einer Gehirnautopsie eindeutig zu bewerten.
Mit dem ausführlicheren erweiterten Drei-Stufen-Basismodell erfolgte eine erste Eingrenzung der Ursachen von Zellfunktionsstörungen auf fehlerhafte innere Zellprozesse.
Diese Zellprozessfehler müssen jetzt durch eine Detailanalyse näher bestimmt und differenziert werden, was ein geeignetes Zellprozessmodell voraussetzt, mit dem physiologische Zellschwachstellen gezielt aufgedeckt werden können. Im nachfolgenden Kapitel 2 wird ein solches Modell entworfen.