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Nach seinem Sieg am Granicus erreichte Alexander die Stadt Gordion in Kleinasien. Er besichtigte dort den bekannten Wagen, dessen Teile mit Seilen aus Bast zusammengebunden waren, und deren Knoten noch niemand auflösen konnte.
Es ging die Sage, dass nämlich derjenige, der die Seile löse, dazu bestimmt sei, über ganz Asien zu herrschen. Als Alexander die Anfänge des Knotens nicht finden konnte, nahm er sein Schwert und durchtrennte ihn mit einem einzigen Hieb.
- Plutarch: Alexander -
Pluralität darf niemals ohne Notwendigkeit postuliert werden.
- Wilhelm von Ockham -
Die Anzahl von Erkrankungen des Zentralnervensystems steigt seit Jahren weltweit massiv an. Die Ursachen zahlreicher Nervenerkrankungen gelten immer noch als unbekannt. Der überwiegende Teil wird standardmedizinisch ausschließlich symptomatisch oder mit unzureichend wirksamen Verfahren behandelt.
Spätestens seit 1998 vollzieht sich ein molekularbiologischer Paradigmenwechsel durch die Beschreibung bis dahin unbekannter genregulatorischer Prozesse, für die zwei US‑amerikanische Forscher im Jahre 2006 mit dem Medizinnobelpreis ausgezeichnet wurden. Schon 1993 entdeckten ebenfalls US‑amerikanische Wissenschaftler kurzkettige genregulierende RNA‑Moleküle (micro‑RNA) und erhielten dafür im Oktober 2024 den Medizinnobelpreis.
Leider sind diese Erkenntnisse noch nicht in Form standardisierter medizinischer Verfahren angekommen, obwohl mit ihnen korrespondierende komplementäre Behandlungsmethoden schon seit etwa 70 Jahren zur Verfügung stehen.
Und genau darum geht es in der vorliegenden Web-Publikation:
Die Webseiten enthalten umfassende Analysen neurologisch-psychiatrischer Erkrankungen mit besonderem Schwerpunkt auf Affektstörungen. Das komplexe Geschehen im Gehirn ‑ insbesondere auf Zellebene ‑ und viele Interaktionen des Gehirns mit der Umwelt werden integrativ analysiert und bewertet.
Das Ergebnis ist eine radikale Veränderung des Verständnisses der Ursachen von Nervenerkrankungen und ihrer Behandlungsmöglichkeiten.
Auf dieser Seite macht zunächst ein komprimierter Überblick einschließlich einer kurzen Vorstellung der Methodik mit den wichtigsten Fakten vertraut (→ Intention und erster Überblick, Lesedauer ca. 25 bis 30 Minuten).
Danach folgen kurze Zusammenfassungen der Teile I, II und III mit den Kapiteln 1 bis 10, die einen leichteren Einstieg in jedes Kapitel ermöglichen. Sprungmarken zu Beginn jeder Kapitelzusammenfassung vereinfachen den Zugriff auf die ausführlichen Texte.
Die umfangreichen Inhalte sind in zehn aufeinander aufbauende Kapitel gegliedert. Um aussagekräftige Modelle zu entwickeln, wurden komplexe Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Akteuren analysiert. Für das grundsätzliche Verständnis sind diese Details jedoch nicht entscheidend. Seiten und Texte wurden daher so strukturiert, dass Querlesen bzw. partielles Lesen möglich ist. Auf die Verständlichkeit aller Texte und Graphiken wurde geachtet. Vorkenntnisse sind nützlich, aber nicht notwendig. Bei komplexen Sachverhalten erleichtern Schaubilder, Graphiken, Videos und Animationen den Überblick.
Zusätzliche Informationen zum Herunterladen sowie Hinweise zu weiteren Textquellen und Literaturempfehlungen bietet die Seite Links & Downloads. Das Glossar enthält Erläuterungen zu Fachbegriffen.
Die Inhalte werden kontinuierlich erarbeitet, bearbeitet und bei Bedarf ergänzt, derzeit ist der erste Teil mit den Kapiteln 1 bis 4 (Kausale Theorien) fast vollständig, die restlichen Kapitel kommen nach und nach hinzu:
Erster Überblick, Zusammenfassungen der Kapitel - fertiggestellt, wird kontinuierlich angepasst
Kausaltheorie - fertiggestellt, wird kontinuierlich aktualisiert
Zellprozessmodell - fertiggestellt, wird kontinuierlich aktualisiert
Identifizierung und Bewertung der Zellschwachstellen - fertiggestellt, wird kontinuierlich aktualisiert
Multikausale Theorie, Teil A (Zellschwachstellen) - fertiggestellt, wird kontinuierlich aktualisiert
Multikausale Theorie, Teil B (Sonstige exogene Noxen) - in Bearbeitung
II. Kausale Therapien - in Konzeption
III. Allgemeine Theorie - in Konzeption
Links & Downloads - wird kontinuierlich ergänzt
Glossar - im Aufbau, wird kontinuierlich ergänzt
Blog - geplant
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Die Steigerung von Fällen neurologischer bzw. psychiatrischer Erkrankungen während der letzten Jahrzehnte ist zum Teil eine Folge medizinischer Fortschritte in der Behandlung infektiöser, innerer und maligner Erkrankungen. Erfreulicherweise hat sich der Altersdurchschnitt der Bevölkerung dadurch erhöht, jedoch fehlen nun effektive Standardtherapien gegen neurologische und vor allem neurodegenerative Erkrankungen bei einer immer älter werdenden Bevölkerung. Und gerade auch mangels effektiver Standardtherapien steigt die Patientenzahl weiter an. Therapeutische Fortschritte ‑ zum Beispiel gegen demenzielle Erkrankungen, Morbus Parkinson oder Multiple Sklerose ‑ finden praktisch nicht statt.
Bei Depression, Manie und der Bipolaren Erkrankung, die auch als Affektive Störungen bezeichnet werden, sieht es nicht besser aus. Deren Ursachen scheinen seit jeher unklar, ebenso die Gründe für ihr immer häufigeres Auftreten. Es fehlen Modelle, die Affekterkrankungen umfassend beschreiben und erklären. Stattdessen werden voneinander unabhängige Ursachen angenommen und zusammenfassend als multifaktorielle Ätiopathogenese bezeichnet, ohne sie in einen Gesamtzusammenhang zu stellen. Antidepressiva wirken bei einem großen Teil der Erkrankten nur unzulänglich, Studien zeigen, dass einzelne Präparate keine Wirkungen entfalten, die über den Placeboeffekt hinausgehen.
In Psychiatrie, Psychosomatik, Neurologie, Neuropathologie, Endokrinologie, Pharmazie, Genetik und Psychologie konkurrieren unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Ansichten über die Ursachen affektiver Erkrankungen, so dass sich kein fachübergreifend schlüssiges Krankheitsverständnis entwickeln kann.
Seit dem Jahre 1963 wird kognitionspsychologisch mit dem 9‑Punkte‑Test untersucht, ob Probanden eine Lösung für auf den ersten Blick Unlösbares zu finden in der Lage sind. Dabei sollen neun quadratisch angeordnete Punkte innerhalb einer vorgegebenen Zeit mit maximal vier geraden Linien verbunden werden, ohne den Stift abzusetzen und ohne eine Linie doppelt zu zeichnen (→ Abbildung A). Die meisten Teilnehmer geben nach etlichen Versuchen auf. Kaum jemand bewältigt diese Aufgabe, und nur sehr wenige erzielen eine Lösung. Weiter unten wird eine Lösung präsentiert (→ Abbildung H) und gezeigt, warum diese Aufgabe schwierig ist, und was dieses Experiment mit den Themen zu tun hat, um die es auf diesen Webseiten geht.
ABBILDUNG A: DER 9-PUNKTE-TEST
Abbildung A: Neun Punkte sollen geradlinig mit vier oder weniger Linien verbunden werden, ohne den Stift abzusetzen. Ebenfalls darf keine Linie doppelt gezeichnet werden.
Die hier zu diskutierenden kausalen Theorien schaffen im Teil I die Verbindung zwischen einem allgemeinen und einem multifaktoriellen Modell affektiver Erkrankungen. Das allgemeine Modell zeigt, wie ungünstige Veränderungen der Aktivitäten von Nerven- und Gliazellen in den für die Verarbeitung von Affekten entscheidenden Hirnarealen zu Störungen der Reiz- und Informationsverarbeitung führen, und infolgedessen affektive Erkrankungen entstehen können. Multifaktorielle Einflüsse verantworten diese Störungen sekundär durch Versorgungsprobleme mit Kausalfaktoren, Störungen der Genregulation und schädliche Prozesse, die von innen und außen den Zellstoffwechsel beeinträchtigen.
Im darauffolgenden Teil II dreht sich alles um kausale Therapiestrategien gegen Affekterkrankungen, die sich an den zuvor aufgestellten Ursachenhypothesen orientieren.
Im Teil III wird geprüft, ob sich die Modelle auch auf andere Nervenerkrankungen übertragen lassen, zum Beispiel auf verschiedene Demenzformen, Morbus Parkinson, Schizophrenie, Multiple Sklerose oder Epilepsie.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts entstand die Zelltheorie. Der Berliner Arzt Rudolf Virchow (1821 ‑ 1902) veröffentlichte 1858 seine Zellpathologielehre. Damals fing man an zu verstehen, dass die Leistungen eines Organs und des gesamten Körpers auf den Leistungen der Zellen und deren Zusammenarbeit beruhen. Rudolf Virchow zog daraus den Schluss, Krankheiten als unmittelbare Folgen von Zellstörungen zu betrachten.
Diese grundlegenden Zusammenhänge werden vor allem in der Psychiatrie auch noch heutzutage nur unzureichend gewürdigt. Denn trotz der Arbeit von Jean‑Martin Charcot (1825 ‑ 1893), der schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Neurologe am Pariser Hôpital de la Salpêtrière nach hirnorganischen oder anderen physischen Ursachen psychiatrischer Erkrankungen suchte und von der Möglichkeit physiologischer Veränderungen bzw. Läsionen im Gehirn überzeugt war, wurden vor allem psychoanalytische, später tiefen- und verhaltenspsychologische (Erlernte Hilflosigkeit, Verstärker-Verlust-Theorie nach Lewinsohn, Kognitive Theorie von A. T. Beck etc.) oder sozialwissenschaftliche Modelle entwickelt, die potentielle Ursachen affektiver und anderer psychiatrischer Erkrankungen postulierten, ohne einen ausreichenden Bezug zu organischen Aspekten des Gehirns herzustellen.
Bis heute ist der Gegensatz zwischen Psychikern und Somatikern nicht überwunden: Während Psychiker psychiatrische Erkrankungen auf seelische, nicht-körperliche Ursachen zurückführen, gehen Somatiker von Erkrankungen oder Veränderungen aus, die das Zentralnervensystem oder periphere Organe betreffen.
Daran ist der immer noch einflussreiche österreichische Psychiater Sigmund Freud (1856 ‑ 1939) nicht unschuldig, da er sich im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere immer weiter von dem Gedanken einer neurologischen Grundlage psychiatrischer Erkrankungen entfernte. Am Beginn seiner Laufbahn wurde Freud sowohl vom Somatiker Jean‑Martin Charcot als auch von dem aus Sachsen stammenden Psychiater und Neuropathologen Theodor Meynert (1833 ‑ 1892) beeinflusst. Meynert war ein weiterer Vertreter der Somatiker, die Verbindungen zwischen dem Gehirn als Organ und psychiatrischen Erkrankungen annahmen. Der Titel seines bekanntesten Werks aus dem Jahr 1884 weist den Weg: „Psychiatrie. Klinik der Erkrankungen des Vorderhirns“.
Im Jahre 1883 - also nur ein Jahr vor Erscheinen von Meynerts Buchs ‑ behauptete Sigmund Freud, dass es keine organischen Erklärungen der Hysterie gebe, „dass die Schädigungen der hysterischen Lähmungen vollkommen unabhängig von der Anatomie des Nervensystems sein müssen, da sich die Hysterie in ihren Lähmungen und anderen Manifestationen verhält, als gäbe es die Anatomie nicht und als hätte sie keinerlei Kenntnis von ihr.“ (Quellen: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, London 1952; Oliver Sacks, Der Strom des Bewusstseins, Rowohlt Verlag, Reinbek 2017). Nach Freud handelt es sich bei psychiatrischen Erkrankungen um nicht organisch bedingte Störungen von „Seele und Geist“. Freud hielt zeitlebens an dieser mittlerweile völlig überholten Hypothese fest und beeinflusst dadurch auch heute noch die Diskussionen über die Ursachen affektiver und anderer psychiatrischer Erkrankungen.
Vermutungen über eine neurologische Grundlage psychiatrischer Erkrankungen gab es sogar schon lange bevor Theodor Meynert sein Hauptwerk 1884 veröffentlichte. Wilhelm Griesinger (1817 ‑ 1868), ein renommierter Psychiater aus Württemberg, schrieb im Jahre 1845 ‑ also sogar noch vor den Arbeiten Rudolf Virchows zur Zellphysiologie ‑ im damaligen Standardwerk für Psychiatrie: „Die vorliegende Schrift beschäftigt sich mit der Lehre von der Erkenntnis und Heilung der psychischen Krankheiten (...); die Aufstellung der ganzen Gruppe der psychischen Krankheiten ist aus einer symptomatologischen Betrachtungsweise hervorgegangen und ihr Bestehen ist nur von einer solchen aus zu rechtfertigen. Der erste Schritt zum Verständnis der Symptome ist ihre Localisation. Welchem Organ gehört das Phänomen (...) an? - Welches Organ muss also überall und immer notwendig erkrankt sein (...)? - Die Antwort auf diese Frage ist die erste Voraussetzung der ganzen Psychiatrie. Zeigen uns physiologische und pathologische Tatsachen, dass dieses Organ nur das Gehirn sein kann, so haben wir vor allem in den psychischen Krankheiten jedesmal Erkrankungen des Gehirns zu erkennen.“ (Quelle: Wilhelm Griesinger, Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, Verlag Krabbe, Stuttgart 1845).
Rückblickend sind die Standpunkte der Psychiker durchaus nachvollziehbar, war das Gehirn im 19. Jahrhundert schließlich noch wissenschaftliches Neuland. Im 21. Jahrhundert wirken solche Ansichten aber vor allem rückständig.
So wurden ‑ und werden auch noch heutzutage ‑ abenteuerliche Hypothesen über die Ursachen psychiatrischer Erkrankungen konstruiert. Der niederländische Hirnforscher Dick Swaab schildert Missverständnisse bei Autismus-Diagnosen, die in den 1960er Jahren Leo Kanner unterliefen. Kanner, ein Kinder- und Jugendpsychiater aus Baltimore/USA, beschrieb 1946 als Erster ein Krankheitsbild, das heute Frühkindlicher Autismus genannt wird. Dazu Dick Swaab: „Autismus wird erst seit ziemlich kurzer Zeit als eine Entwicklungsstörung des Gehirns gesehen, die sich bereits in der Gebärmutter ausbildet. Vor dreißig Jahren habe ich noch erlebt, dass nach umfangreichen Untersuchungen durch Psychiater und Psychologen die Eltern eines Kindes, das von Anfang an «anders» war, nicht nur die Diagnose Autismus verkraften mussten, sondern auch die Aussagen, dass ihre Erziehung dieses Problem verschuldet habe. Verantwortlich hierfür war Kanner, der behauptet hatte, Autismus sei eine Reaktion auf fehlende Mutterliebe. Selbst 1960 vertrat er noch die Ansicht, dass die «Kühlschrankmutter» (refrigerator mother) autistischer Kinder nur ganz kurz aufgetaut sei, um das Kind zu zeugen. Wie viele Eltern wurden durch diese absurde Vorstellung wohl völlig zu Unrecht bestraft?“ (Quelle: Dick Swaab, Wir sind unser Gehirn, Droemer Verlag, München 2011).
Dabei liegt es spätestens seit Rudolf Virchow nahe, dass das Gehirn gleiche oder ähnliche physiologische Erkrankungspotentiale in sich birgt wie jedes andere Organ. Theorien oder Modelle, die solche Aspekte unzureichend berücksichtigen, sind mit Recht als substanzlos zu bezeichnen und halten auch keiner wissenschaftlichen Überprüfung stand.
Sogar Morbus Parkinson, an dessen hirnorganischen Ursachen heute keine Zweifel bestehen, wurde bis in die 1950er Jahre als psychogen-neurotische, das heißt nicht organisch bedingte psychiatrische Störung aufgefasst, obwohl der russische Neuropathologe Konstantin Tretjakov schon im Jahre 1919 entdeckte, dass Degenerationen bestimmter Hirnareale in einem Zusammenhang mit der Erkrankung stehen. Psychiater waren dennoch überzeugt, Parkinsonkranke seien charakterlich gefühlsarm und die Schüttellähmung sowie das maskenhafte Gesicht Ausdruck unterdrückter Emotionen. US‑amerikanische Nervenärzte vertraten die Theorie, Morbus Parkinson beruhe auf Zwangsstörungen und unterdrückter Aggressivität.
Man versetze sich in die Situation hilfesuchender Parkinsonpatienten, die mit derart vulgärpsychologischen Deutungsversuchen konfrontiert wurden. In der Regel spüren Betroffene, dass solche hilflosen und abstrusen Erklärungsversuche jeder Grundlage entbehren.
Seit den 1960er Jahren bestätigten Forschungen die Ursachen der Parkinsonerkrankung, die auf Dopaminmangel und degenerativen Veränderungen autonomer Hirnstrukturen beruhen, die Tretjakov fast fünfzig Jahre zuvor beschrieb. Und trotz all dieser Erkenntnisse: Es gibt bis heute keine befriedigenden Therapiestandards gegen Morbus Parkinson, obwohl die Entdeckung der Ursachen durch Tretjakov nun schon weit zurückliegt.
Erst Ende der 1950er Jahre kamen Medikamente auf den Markt, die zellphysiologische Prozesse im Gehirn beeinflussen und zur Behandlung affektiver Erkrankungen eingesetzt werden. Forscher entdeckten diese Substanzen jedoch zufällig, da sie zunächst zur Behandlung völlig anderer oder anderer psychiatrischer Erkrankungen vorgesehen waren. Beispiele sind das Tuberkulosemedikament Iproniazid und das zunächst gegen Schizophrenie entwickelte Imipramin. Später wurden beide zur Therapie der Depression verwendet.
Bis heute setzen sich Pharmazeuten nur unzureichend mit organischen Ursachen Affektiver Störungen auseinander. Sie favorisieren kritikwürdige Behandlungsstrategien der Manipulation bestimmter Neurosubstanzen, deren tatsächliche Verbindungen mit der Krankheitsentstehung völlig unklar sind und von vielen Fachleuten bezweifelt werden.
Allein aufgrund der Annahme, monoamine Reizüberträgersubstanzen ‑ wie beispielsweise Serotonin ‑ ständen mit einer Depression in einem ursächlichen Zusammenhang, wird seit Anfang der 1970er Jahre die These vertreten, eine Erhöhung der Monoaminkonzentrationen an bestimmten Stellen im Gehirn müsse positive klinische Effekte haben. Im Jahre 1988 kam in den USA das erste Medikament mit der Handelsbezeichnung Prozac auf den Markt, dessen Wirkungsweise mit dieser bis heute unbewiesenen Monoaminmangelhypothese begründet wurde.
Schwachpunkte der Monoaminmangelhypothese sind sowohl fehlende Nachweise als auch fehlende plausible Annahmen über Ursachen und Wirkungen. Die ungenügende Auseinandersetzung mit diesen Defiziten und wenig innovative Forschungen führten dazu, dass Medizin und Pharmazie immer noch keine wesentlichen Fortschritte vorzuweisen haben - weder beim Verständnis der Ursachen der Erkrankung noch bei der Behandlung. Die in den 1950er bis 80er Jahren entwickelten Medikamente sind bis heute fast unverändert die Grundlagen breitenmedizinischer Behandlungen, obwohl die Kritik an ihnen aus mehreren Richtungen seit Jahren massiv zunimmt. Studien und Anwendungserfahrungen zeigen, dass die Substanzen nur bei etwa einem Drittel der Patienten zu nennenswerten Verbesserungen führen, für ein weiteres Drittel bringen sie maximal leichte Vorteile. In beiden Fällen können direkte Wirksamkeitsnachweise nicht erbracht werden. Auf die Symptome des restlichen Drittels haben die Präparate überhaupt keine Wirkungen. Darüber hinaus haben die Medikamente häufig unangenehme Nebenwirkungen, die Folgen der Manipulationen der Reizübertragung sind.
Da Behandlungen mit diesen Präparaten in der Psychiatrie etabliert sind und die Kosten aufgrund der Leistungskataloge der Krankenkassen und Krankenversicherer übernommen werden, besteht auch von Seiten der Hersteller wenig Motivation, daran etwas zu ändern. Sie haben mangels Erfolgs die Forschung nach wirkungsvolleren Medikamenten so gut wie eingestellt. Stattdessen werden schon erfolgreich vermarktete Präparate pharmakologisch leicht modifiziert und die daraus entstandenen „neuen Präparate“ mit einem Patent versehen, um sie dann möglichst lukrativ auf dem Gesundheitsmarkt anbieten zu können.
Gerhard Gründer, früher Professor für Experimentelle Neuropsychiatrie an der RWTH Aachen und Stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an der Uniklinik RWTH Aachen und seit 2018 Leiter des Zentrums für Innovative Psychiatrie- und Psychotherapieforschung am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, gehört zu den Fachleuten, die diesen Zustand kritisieren: „Große Unternehmen haben sich komplett aus dem Bereich zurückgezogen, haben ihre Forschung eingestellt, weil es nicht mehr lukrativ ist. Die Pharmaindustrie ist an Gewinn interessiert, ist ihren Aktionären verpflichtet, und wenn daraus, aus der Forschung nichts herauskommt, dann stellt man das ein. Und das ist in den letzten zehn Jahren geschehen. Es gibt noch eine umfangreichere Forschung bei den neurodegenerativen Erkrankungen, Stichwort Alzheimerdemenz, aber wenn es so um die großen klassischen Krankheiten wie Schizophrenie oder Depression geht, da findet nur noch sehr wenig statt und da muss man ganz klar von einer Krise der Psychopharmakologie sprechen.“ (Quelle: Martin Huber, Die Krise der Psychopharmaka, Feature des Deutschlandfunks vom 2.4.2017, Deutschlandradio, Köln, http://www.deutschlandfunk.de/...).
Erst seit relativ kurzer Zeit entwickeln Wissenschaftler neue Ansätze, die Ursachen affektiver Erkrankungen zu entschlüsseln. So gibt es Versuche, Wechselwirkungen zwischen der körperlichen und nicht körperlichen Ebene zu erklären, beispielsweise mit Hilfe verschiedener Stressmodelle, oder die Rolle oxidativer Zellprozesse bei der Entstehung von Affektstörungen zu verstehen. Moderne computergestützte Diagnosetechniken und erste zaghafte Änderungen des Krankheitsverständnisses ermöglichen diese Fortschritte. Leider finden solche Aktivitäten überwiegend in der Forschung statt. Es besteht die Gefahr, dass Erkenntnisse dort versickern und kaum Auswirkungen auf die Behandlungsweisen in den Heilpraxen und Krankenhäusern haben.
Neben dem Unverständnis über die Ursachen affektiver Erkrankungen gibt es auch viele Missverständnisse über deren Charaktereigenschaften. Auf einem Vortrag über psychiatrische Störungen im Zusammenhang mit chronischen Infektionskrankheiten referierte ein Psychiater über den Fall eines Patienten, der über mehr als zwei Jahre psychotherapeutische Hilfe wegen einer Depression in Anspruch genommen hatte, bevor sich herausstellte, dass ein Vitamin‑B12‑Mangel aufgrund seiner veganen Ernährung für die psychische Situation verantwortlich war. Nach einer B12‑Substitution verschwand die Depression sofort. Der vortragende Arzt kommentierte das mit den Worten, der „Patient hätte also gar keine Depression gehabt“. Meine Frage, welche Diagnose er stattdessen vorschlagen würde, konnte er nicht beantworten.
Das Beispiel ist leider kein Einzelfall und demonstriert auf anschauliche Weise die immer noch vorherrschenden diffusen Vorstellungen über psychiatrische Erkrankungen, deren Symptome und Ursachen.
Aber nicht nur in der Medizin bzw. Psychiatrie, auch in der psychologisch-therapeutischen Ausbildung wurden über Jahrzehnte Defizite angehäuft. Erich Kasten, Professor für Klinische Psychologie, beschreibt die Folgen: „«Cogito ergo sum» sagte René Descartes vor über 400 Jahren und schuf damit die Zweiteilung von Körper und Seele. Seitdem sind Medizin und Psychologie getrennte Wissenschaften, die oft nur schwer unter einen Hut zu bringen sind. (...) In der Psychotherapie-Ausbildung werden erst seit einigen Jahren auch Kenntnisse über organische Ursachen psychischer Störungen verlangt. Aller Wahrscheinlichkeit nach gelangen jedes Jahr mehrere Tausend Patienten auf die Couch der Psychoanalytiker oder in die Sprechzimmer von Verhaltenstherapeuten, die dort gar nicht hingehören.“ (Quelle: Erich Kasten, http://www.erich-kasten.de/...).
Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang ist die schwierige Objektivierbarkeit psychiatrischer Erkrankungen, denn deren Hauptsymptomatik sind massive Störungen der individuellen Erlebnis- und Gefühlswelt, die von Gesunden oft nur schwer oder gar nicht nachzuvollziehen sind, mögen sie als Ärzte, Heilpraktiker oder Psychologen auch noch so viele Fachausbildungen absolviert oder praktische Erfahrungen mit Patienten gemacht haben.
Ein Knochenbruch oder ein Sekundärkarzinom der Leber ist als Erkrankung des Körpers relativ leicht zu begreifen, und Ursachen‑Wirkungs‑Beziehungen sind oft problemlos herzustellen. Aber welches Verständnis ist von Behandelnden bzw. Wissenschaftlern zu erwarten, die Affektstörungen oder Psychosen nur theoretisch aus Büchern oder Patientenschilderungen kennen, sich jedoch beruflich damit praktisch auseinandersetzen müssen? Es ist ‑ auch bei Fähigkeit zur Empathie ‑ vergleichbar mit dem Verständnis von Blinden, die sich mit dem Phänomen der Farben beschäftigen. Aber auch bei persönlichen Krankheitserfahrungen müssen sich Forscher und Therapeuten darüber im Klaren sein, dass sie das Erleben anderer psychiatrisch erkrankter Personen nicht objektiv nachempfinden können. Das ist nicht sarkastisch oder abwertend gemeint, sondern eine Tatsache. Dieser Tatsache sollte sich jeder ‑ Behandelnder und, sofern möglich, auch der Patient ‑ bewusst sein. All das zu beachten ist wichtig, um vor voreiligen und falschen Interpretationen bzw. ineffektiven Therapiebemühungen zumindest bis zu einem gewissen Punkt geschützt zu sein.
Die Schwierigkeit, das Wesen affektiver und anderer psychiatrischer Erkrankungen zu verstehen, liegt auch am allgemein falschen bzw. laxen sprachlichen Umgang mit den Begriffen. So werden unreflektiert und nachlässig auf völlig unpassende und verallgemeinernde Weise negative emotionale Zustände oft als depressiv bzw. Depression bezeichnet, die nicht im Entferntesten etwas mit dieser Erkrankung zu tun haben.
Auch in Literatur, Theater oder Film werden psychiatrische Erkrankungen häufig realitätsfern dargestellt und die Beschreibungen der Situationen Betroffener bzw. von Erkrankungscharakteristiken dramaturgischen Bedürfnissen angepasst mit der Folge völlig verzerrter Darstellungen, die Leser oder Zuschauer dann als Wirklichkeit missverstehen.
Die Zersplitterung der Heilkunde in mehrere, zum Teil miteinander konkurrierende Fachgebiete stellt für die Entschlüsselung der Ursachen und Charakteristiken psychiatrischer Erkrankungen ein weiteres Hindernis dar. So ist die generelle Teilung der Nervenheilkunde in Psychiatrie und Neurologie ungünstig. In Deutschland gibt es zusätzlich noch eine medizinische Fachrichtung für Neuropathologie. Psychologen und psychologische Therapeuten vertreten ebenfalls unterschiedliche Meinungen. Dabei stellt die Psychologie überhaupt keine medizinische Fachrichtung dar. Dennoch begaben sich die Vertreter von Psychiatrie und Psychologie in Fragen der Deutungshoheit in einen äußerst unglücklichen Konkurrenzkampf. Im Jahre 1992 sorgte in Deutschland die neu etablierte ärztliche Fachrichtung „Psychotherapeutische Medizin“ zusätzlich für Verwirrung. Später wurde die Facharztbezeichnung geändert in „Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“. Auf Seiten der Psychiatrie wurde ‑ um den Anspruch auf die Ausübung der Psychotherapie zu unterstreichen ‑ mit der Umbenennung des Fachgebiets in „Psychiatrie und Psychotherapie“ prompt reagiert. Die Kriegsbeile sind bis heute nicht vergraben. Pharmahersteller machen mit ihren Interessen das Durcheinander komplett.
Quintessenz: Die Bemühungen, ursächliche und charakteristische Aspekte von psychiatrischen Erkrankungen bzw. Affektstörungen zu beschreiben, zu analysieren, zu verstehen und in einen nachvollziehbaren, plausiblen Zusammenhang zu bringen, werden bis heute nicht mit der notwendigen Klarheit und Intensität vorangetrieben.
Alle Problematiken machen es für Therapeuten und Patienten zu einer schwierigen Herausforderung, die Depression als klinische Erkrankung zu erkennen, effektiv zu behandeln und von der depressiven Verstimmung oder einer Lebenskrise zu unterscheiden. Die beiden zuletzt genannten Zustände sind nicht mit einer Depression im hier verstandenen Sinne vergleichbar, auch wenn sie für Betroffene mit vergleichbaren Konsequenzen verbunden sein können. Während depressive Verstimmungen eine natürliche Reaktion auf als negativ empfundene Lebenssituationen sind und nach deren Beseitigung verschwinden, ist das bei einer Depression nicht der Fall.
Allerdings sind depressive Verstimmungen aufgrund ihres Stresspotentials mittel- bis langfristig in der Lage, die Entstehung einer Depression zu begünstigen, zu verstärken oder diese sogar maßgeblich auszulösen, was die Gemengelage noch unübersichtlicher macht. Es ist auch nicht ungewöhnlich, an einer Depression zu erkranken und sich unabhängig davon noch in einer Lebenskrise zu befinden oder depressive Verstimmungen zu haben, was die Sache weiter verkompliziert.
Es ist aber wichtig, zu differenzieren und sich der Unterschiede verschiedener Erkrankungscharakteristiken bewusst zu sein, da dies sowohl für das Verständnis individueller Ursachen als auch für eine auf Grundlage dieser individuellen Ursachen konzipierten patientengerechten Therapie notwendig ist.
Gerade eine differenzierte Betrachtung könnte den Gegensatz zwischen Psychikern und Somatikern zumindest teilweise auflösen und beide Gruppen miteinander versöhnen: Nämlich wenn es gelingt, plausible Annahmen über die organischen Auswirkungen psychischer Stressfaktoren auf das Gehirn zu formulieren. Würden sich die Annahmen mit Hilfe von Studien und modernen Diagnoseverfahren bestätigen, gehörte der Gegensatz Psychiker‑Somatiker wohl endgültig der Vergangenheit an.
Die hier aufgestellten Hypothesen postulieren auf zwei Kausalebenen Affektive Störungen aus einer somatologischen Sicht als organisch verursacht. Sie beruhen auf Rudolph Virchows Gedanken, dass Organerkrankungen auf Zellstörungen zurückzuführen sind:
Typische Symptome einer Depression, beispielsweise Stimmungstiefs, Antriebsarmut, emotionale Verflachung oder Konzentrationsprobleme, beruhen auf einem dreistufigen Veränderungsprozess der funktionellen Aktivitäten von Nerven‑ und Gliazellen in für diese Merkmale verantwortlichen Hirnarealen. Damit sind auf der Ebene des Nervensystems Ursachen einer Depression bis zu einem bestimmten Grad mit anderen zentralnervösen neurologischen Erkrankungen vergleichbar, beispielsweise Demenz, Morbus Parkinson oder Multiple Sklerose.
Die wenigen und klar formulierten Hypothesen anhand eines dreistufigen Basismodells genügen den Anforderungen des vom Wissenschaftstheoretiker Wilhelm von Ockham (ca. 1285 ‑ 1345) begründeten Parsinomieprinzips. Danach soll eine Theorie sparsam mit Erklärungen und geringer Komplexität begründet werden: Je einfacher eine Theorie ist, desto wahrscheinlicher ist sie ‑ unter der Bedingung ihrer Plausibilität.
Mit den Annahmen lassen sich komplexe Phänomene der Erkrankung begründen, beispielsweise Symptomvielfalt, psychosomatische Aspekte oder die individuelle psychische Resilienz. Untersuchungen mit bildgebenden Diagnoseverfahren und Post‑mortem‑Untersuchungen stützen die Hypothesen durch Nachweise degenerativer Veränderungen in den affektrelevanten Hirnarealen. Die Hypothesen sagen allerdings nichts aus über die konkreten Auslöser der Veränderungen.
In den Kapiteln 3 und 4 werden zahlreiche konkrete Auslöser identifiziert, analysiert und bewertet. Um dahin zu gelangen, bedarf es allerdings noch eines Zwischenschritts.
Das von der Umwelt isolierte Basismodell charakterisiert Zellfunktionsstörungen als Reizverarbeitungsstörungen, die längerfristig zu einem strukturellen Abbau von Hirnzellen und ihren Verbindungen führen. Da Zellfunktionen wiederum auf inneren Stoffwechselprozessen basieren, ist daraus der Schluss zu ziehen: Krankhafte Veränderungen der Reizverarbeitung beruhen auf Störungen innerer Zellprozesse.
Dieser grobe Kausalzusammenhang zwischen Zellprozessen und Zellfunktionen muss im nächsten Schritt mit einer Zellprozessanalyse untersucht und verfeinert werden. Ein Zellprozessmodell, das alle Abläufe komprimiert darstellt, ohne es mit verzichtbaren Details zu überfrachten, stellt dafür die Grundlage dar. Auch hier ist Ockhams Parsinomieprinzip ein Leitmotiv: So viele Elemente wie nötig, so wenig Elemente wie möglich sind die Voraussetzungen einer erfolgversprechenden Suche nach Zellschwachstellen.
Das Modell ordnet alle Zellprozesse auf zwei Ebenen an und trennt die Proteinbiosynthese prominent auf der oberen Ebene von den restlichen Prozessen. Acht Substanzen(‑gruppen) gelten als Faktoren, darüber hinaus sind die aus der Proteinbiosynthese resultierenden Eiweißmoleküle in Form kurz- und langkettiger Peptide Modellbestandteile.
ABBILDUNG B: ZWEI PROZESSEBENEN, PROTEINBIOSYNTHESE, FAKTOREN UND PROTEINE/PEPTIDE
Abbildung B: Das in Kapitel 2 erarbeitete Zellprozessmodell ‑ hier in einer vereinfachten Darstellung ‑ weist zwei Prozessebenen auf mit der Proteinbiosynthese auf der einen (oberen) und allen restlichen Prozessen auf einer anderen (unteren) Ebene. Zur korrekten Prozessdurchführung auf beiden Ebenen nutzt eine Zelle zwei unterschiedliche Kategorien von Substanzen. Zum einen sind das acht Faktoren bzw. Gruppen von Faktoren und zum anderen Eiweißmoleküle in Form kurzkettiger Peptide bzw. langkettiger und komplexerer Proteine. Die elterliche Erbinformation (1) stellt als Faktor sämtliche ncRNA‑ und Gencodes zur Durchführung der Proteinbiosynthese zur Verfügung. Sechs weitere Faktoren (2, 3, 4, 6, 7 und 8) gelangen fast ausschließlich von außen in die Zelle, nämlich Wasser, Sauerstoff, Aminosäuren, Fettsäuren, Glukose und Mikronährstoffe. Einzig die nicht‑codierenden Ribonukleinsäuren (ncRNA) stellen eine Ausnahme unter den Faktoren dar. Die für den korrekten Ablauf sämtlicher Proteinbiosyntheseprozesse zuständigen ncRNA‑Moleküle (5) werden durch Ablesen der Zell‑DNA zelltyp‑ bzw. funktionsspezifisch in jeder Zelle selbst produziert. Während der Embryogenese beeinflussen mit großer Wahrscheinlichkeit zusätzlich speziesspezifische ncRNA die Entwicklung des entstehenden Organismus.
Die Zellschwachstellenidentifikation liefert auf Grundlage von Analysen des Zellprozessmodells klare und eindeutige Ergebnisse:
Schon Kausaltheorie (→ Kapitel 1) und Zellmodell (→ Kapitel 2) folgen Ockhams Sparsamkeitsprinzip und verdichten ohne Plausibilitätsverlust. Nun ist der nächste Schritt erfolgt, das Zellmodell von unnötigem Ballast zu bereinigen: Die Fokussierung auf acht dominierende Kausalfaktoren ist eine weitere konsequente Anwendung von Ockhams Prinzip (→ Abbildung C), bildlich auch Ockhams Rasiermesser genannt.
ABBILDUNG C: DAS ZELLPROZESSMODELL UNTER „OCKHAMS RASIERMESSER“
Abbildung C: Bei Anwendung von Ockhams Parsinomieprinzip ist die Betrachtung der unteren Zellebene bei der Suche nach Zellschwachstellen entbehrlich. Übrig bleiben Proteinbiosynthese und acht Kausalfaktoren. Das Verständnis des Zusammenwirkens von Kausalfaktoren und Proteinbiosynthese ist der Schlüssel zum Verständnis fast aller Zellprozessprobleme. Auch die Relativierung der Bedeutung somatischer Mutationen der Zell‑DNA als neunte Zellschwachstelle, die mit einer weiteren Fokussierung auf die Kausalfaktoren einhergeht, steht im Einklang mit Ockhams Sparsamkeitsprinzip, dessen „Rasiermesser“ alle für die Zellschwachstellenidentifikation verzichtbaren Modellbestandteile ausblendet.
Eine Beschränkung auf acht Kausalfaktoren reicht immer noch nicht aus, wenn die entscheidenden Zellschwachstellen sicher und eindeutig ermittelt werden sollen:
Es stellen sich u. a. folgende Fragen:
Die Fragen können beantwortet werden, wenn eine vergleichende Kausalfaktorenbewertung gelingt. Dazu bedarf es verschiedener geeigneter Bewertungskriterien, mit denen jeder Faktor geprüft wird. Für jedes erfüllte Kriterium erhält ein Faktor einen Punkt. Je mehr Punkte ein Kausalfaktor erhält, desto stärker beeinflusst er mit seinen Eigenschaften die Zellprozessqualität und desto entscheidender sind seine potentiellen quantitativen und qualitativen Mängel im Hinblick auf kurz-, mittel- und langfristige Verschlechterungen der Zellprozessqualität und der Entstehung von Zellerkrankungen im Vergleich mit niedriger bewerteten Kausalfaktoren.
Nach der Punktevergabe lassen sich die Kausalfaktoren in drei Relevanzgruppen einteilen:
Die Rangfolge zeigt, dass nicht‑codierende RNA innerhalb der Gruppe der Kausalfaktoren mit Abstand am wichtigsten für alle Zellprozesse sind. Fehlerhafte, zu wenig oder gänzlich fehlende ncRNA stellen im Umkehrschluss ein besonders großes Risiko dar, Zellprozesse zu stören. Die Gründe für die zentrale Bedeutung von ncRNA ergeben sich aus ihrer Herkunft, ihrer Synthese, ihren Aufgaben und ihrer schwierigen Zugänglichkeit:
Das Resultat ist nicht nur die Erkenntnis, dass eine Kausalfaktorgruppe die entscheidende Schwachstelle einer Zelle ist. Das Resultat demonstriert auch die Bedeutung des Parsinomieprinzips für die Analyse komplexer Systeme, hier der Analyse komplexer Zellprozesse.
ABBILDUNG D: DIE BEDEUTUNG NICHT-CODIERENDER RIBONUKLEINSÄUREN
Abbildung D: Nicht‑codierende RNA nehmen in der Gruppe der Kausalfaktoren die herausragende Stellung ein, wie Vergleiche und Bewertungen aller Kausalfaktoren nach gemeinsamen Kriterien ergeben. Mängel zelltyp- und funktionsspezifischer RNA sind gleichbedeutend mit der Gefahr, an dem zentralen Prozess einer Zelle ‑ der Proteinsynthese ‑ für Unordnung zu sorgen. Probleme der Versorgung mit ncRNA-Molekülen triggern Zellprozessstörungen, degenerative Erkrankungen und Zellalterung.
Die Bedeutung nicht-codierender RNA‑Moleküle wird in Biologie und Medizin erst seit wenigen Jahren diskutiert, denn die mit ihnen verbundenen Regulationsmechanismen und Substanzen wurden erst Ende der 1990er Jahre von zwei amerikanischen Wissenschaftlern entdeckt (Quelle: Driver/Fire/Montgomery/Kostas/Mello, Potent and specific genetic interference by double-stranded RNA in Caenorhabditis elegans, Nature Journal No. 391, 2/1998, http://www.ncbi.nlm.nih.gov/...).
Andrew Fire und Craig Mello erhielten dafür schon acht Jahre später gemeinsam den Medizinnobelpreis.
Etwa 95% des aktiven menschlichen Genoms enthalten ncRNA‑Codes. Es wird angenommen, dass die überwiegende Anzahl von ihnen als Modulatoren gezielt die Proteinbiosynthese steuert. Erwachsene Körperzellen unterscheiden sich untereinander vor allem durch zellspezifische ncRNA: Jeder Zelltyp verwendet einen individuellen Mix typ- bzw. funktionsspezifischer ncRNA‑Kombinationen zur Genregulation.
Es liegt nahe, dass zelltypspezifische ncRNA-Moleküle überhaupt die einzigen Merkmale sind, an denen sich erwachsene Körperzellen voneinander unterscheiden lassen und ein universelles biologisches Prinzip verkörpern. Die daraus zu ziehenden Schlüsse haben das Potential, die Medizin vollständig zu verändern: In eine Medizin vor der Entdeckung dieses Prinzips und eine Medizin danach.
ABBILDUNG E: KONSEQUENZEN DER MUTATIONEN NICHT-CODIERENDER RIBONUKLEINSÄUREN
Abbildung E: Da ncRNA‑Moleküle die Proteinbiosynthese maßgeblich steuern, ist der gesamte Zellstoffwechsel in besonderem Maße auf ihre korrekte Arbeit angewiesen. Probleme mit ncRNA lassen die Proteinbiosynthese aus dem Ruder laufen ‑ mit verheerenden Folgen für sämtliche Zellprozesse. Keimbahnmutationen und somatische Mutationen führen häufig zu ncRNA‑Defekten, denn auf der Zell‑DNA befinden sich vor allem ncRNA‑Codes. Etwa 95% aller DNA‑Codes repräsentieren ncRNA, Gene für Peptide und Proteine sind demgegenüber nur in vergleichsweise verschwindender Menge vorhanden, beim Menschen zum Beispiel nur etwa 25.500. Degenerative Erkrankungen und Zellalterung sind vor allem Folgen einer sich im Zeitablauf immer weiter erhöhenden Akkumulation von ncRNA‑Fehlcodes der Zell‑DNA. Die Fokussierung auf ncRNA stellt die konsequenteste Anwendung des Ockham'schen Parsinomieprinzips dar.
Nicht-codierende RNA‑Moleküle werden konservativ vererbt. Das bedeutet: Sie sind in einzelnen Zellarten ausgewachsener Säugetierarten jeweils identisch oder fast identisch, teilweise sogar über unterschiedliche Tiergattungen hinweg (Säugetiere, Fische etc.). Vor allem RNA, die erwachsene Körperzellen genregulieren, sind daher zelltypspezifisch, nicht jedoch speziestypisch. Diese Tatsache ist wissenschaftlich belegt, beispielsweise für die zur ncRNA‑Gruppe gehörenden micro‑RNA, welche die Genregulation hauptsächlich steuern.
Am konkreten Beispiel der Säugetiere: Die Gene erwachsener Herzzellen von Katze, Hund oder Mensch werden mit einem identischen ncRNA‑Mix moduliert. Auch die Gene erwachsener Leberzellen von Katze, Hund oder Mensch werden mit einem identischen ncRNA‑Mix moduliert, aber dieser Mix unterscheidet sich wiederum von dem ncRNA‑Mix, den eine Herzzelle benötigt.
Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Spezies Katze, Hund oder Mensch resultieren auf einer jeweils unterschiedlichen Embryogenese. Vermutlich regulieren in dieser Phase, vor allem zu Beginn während der ersten Zellteilungen, speziesspezifische ncRNA die Entwicklung des Embryos und der speziesspezifischen Merkmale. Diese ncRNA-Codes spielen dann in der späteren Embryonalphase bzw. nach der Geburt keine Rolle mehr, die dazugehörigen ncRNA-Codes werden deaktiviert.
Das Prinzip der Zelltypspezifität gilt nicht für alle ncRNA‑Moleküle, beispielsweise nicht für Transfer‑RNA (tRNA), die in allen Zellen identisch ist. tRNA sind zwar an der Durchführung der Proteinsynthese entscheidend beteiligt, indem sie die Aminosäurenverkettung zu Peptiden bzw. Proteinen betreiben. tRNA greifen aber nicht modulierend in den Prozess ein, so dass Zelltypspezifität bei ihnen nicht notwendig ist.
Aber tRNA sind nicht nur in allen menschlichen Zellen identisch, sie sind auch bei allen Lebewesen gleich und damit ebenfalls nicht speziesspezifisch.
Nach den bisherigen Ergebnissen können Zellfunktionsstörungen, eine reduzierte Zellvernetzung oder Zellverlust auf insgesamt neun Zellschwachstellen beruhen, vor allem auf quantitativen und qualitativen Mängeln der entscheidenden acht Kausalfaktoren, die gemeinsam einen gesunden und dynamischen Zellstoffwechsel verantworten. Dazu kommt noch die Möglichkeit somatischer DNA‑Mutationen als neunte Schwachstelle (→ Kapitel 3).
Das bisherige (Teil‑)Modell repräsentiert allerdings nur eine Seite der Medaille, denn es handelt sich um eine von der Umwelt isolierte Betrachtung. Reale Einflüsse von außen wurden zunächst ausgeblendet. Dieses Vorgehen war wichtig, um die Schwachpunkte einer Zelle unabhängig und zweifelsfrei identifizieren zu können. So stellt sich als nächstes die Frage, wie es zu Mängeln an Kausalfaktoren oder zu Mutationen überhaupt kommen kann.
Die Ursachen können banal sein, beispielsweise relativ einfach zu diagnostizierende Mangelzustände von Mikro- oder Makronährstoffen, aber viele benötigen komplexere Diagnosen und Vorgehensweisen, zum Beispiel bei Blutzuckerschwankungen oder Sauerstoffmangel. Einige ‑ wie zum Beispiel Genveränderungen durch Keimbahnmutationen ‑ sind irreversibel. Allen Ursachen gemein ist der Umstand, dass sie hauptsächlich Einflüssen von außen geschuldet sind, die als exogene Noxen bezeichnet werden.
Schadwirkungen exogener Noxen gehen allerdings weit über negative Einflüsse auf Kausalfaktoren hinaus und sind zu unmittelbaren Zellprozessstörungen oder strukturellen Schäden an Zellmembranen, Zellorganellen oder Genen der Zell-DNA in der Lage. Auch Belastungen peripherer Bereiche des Körpers mit Auswirkungen auf das zentrale Nervensystem sind möglich. Auch hier spielen unterschiedliche Ereignisse ihre verhängnisvollen Rollen, beispielsweise emotionaler Stress, energiereiche Strahlung, Industriegifte und andere Schadstoffe, Suchtstoffe, vaskuläre Erkrankungen mit Störungen der Mikrodurchblutung des Gehirns, eine ungenügende Blut‑Hirn‑Schranke, eine Sauerstoffüberversorgung, chronische körperliche Erkrankungen, Infektionen durch Viren ‑ zum Beispiel durch das neuartige Virus SARS‑CoV‑2 bei Covid‑19 ‑, Bakterien oder Parasiten, Entzündungen, Mutationen, Traumata, Medikamente oder bei medizinischen Operationen verwendete Narkotika.
Endogene Noxen haben ebenso schlechte Einflüsse, beispielsweise die zelluläre Atmungskette und damit verbundene aggressive reaktive Sauerstoffspezies (ROS), die ebenfalls sämtliche Zellbestandteile (DNA, Membranen oder Organellen) schädigen können.
Auch hirnorganische Veränderungen aufgrund anderer Nervenerkrankungen können Affektstörungen verursachen und als eigenständige exogene Noxen aufgefasst werden, wenn die Veränderungen affektrelevante Hirnareale betreffen. So ist zu erklären, dass eine Erkrankung an Multipler Sklerose oder Morbus Parkinson mit einer Depression verbunden sein kann, nämlich dann, wenn die affektrelevanten Hirnareale von den degenerativen Veränderungen betroffen sind, die typisch für eine Erkrankung an Multipler Sklerose oder Morbus Parkinson sind. Das gilt potentiell auch für alle anderen neurologisch-psychiatrischen Erkrankungen.
Die Kausaltheorie und ihre multikausale Erweiterung bestätigen die multifaktorielle Ätiopathogenese und bilden gemeinsam ein integriertes Multikausalmodell.
ABBILDUNG F: KAUSALTHEORIE UND MULTIKAUSALE THEORIE IM ÜBERBLICK
Abbildung F: Kausal beruhen Affekterkrankungen primär auf krankhaften funktionell-strukturellen Veränderungen des Gehirns (Darstellung oben in blau), wobei zwei Aspekte zu beachten sind. Der erste Aspekt betrifft Veränderungen auf der Mikroebene der Neuronen und Gliazellen, der zweite Aspekt deren Lokalisation in Arealen, die für die Affektverarbeitung entscheidend sind (Makroebene). Die Zellveränderungen werden mit einem dreistufigen Modell beschrieben, dessen dritte und letzte Stufe mit dem kompletten Zellverlust (Zelltod) endet. Die involvierten Hirnareale werden mit Hilfe einer funktionsorientierten Gehirnlandkarte identifiziert. Primärursachen sind hauptsächlich multikausal durch sekundäre Einflüsse bzw. Sekundärverursacher getriggert und können endogene und vor allem exogene Noxen sein. Diese Sekundäreinflüsse führen zu Kausalfaktorproblemen bzw. unmittelbaren strukturellen Zellschäden, zum Beispiel Genschäden der Zell‑DNA, Membranen oder Organellen. Noxen können beispielsweise Schadstoffe, Erkrankungen des Körpers, radioaktive Strahlung, Traumata oder psychosozialer Stress sein. Auch andere neurologisch-psychiatrische Störungen, zum Beispiel Morbus Parkinson, sind als potentielle Noxen aufzufassen, die zu Problemen mit Affekten führen können.
In Kapitel 5 werden konventionelle Therapiekonzepte bewertet, um danach ursächliche Behandlungsstrategien zu konzipieren und zu diskutieren (Kapitel 6 bis 8). Kausale Therapiestrategien orientieren sich an beiden Ursachenebenen und verfolgen zwei Behandlungsziele:
Mit sieben therapeutisch verfügbaren Kausalfaktoren besteht die Möglichkeit, Behandlungsziel 1 zu erreichen und dysfunktionale Zellprozesse positiv zu verändern, um eine degenerative Entwicklung umzukehren (Kapitel 6 und 7). Engpässe der Kausalfaktoren werden mittels Analysen und Plausibilitätsüberlegungen unter besonderer Berücksichtigung ihrer Relevanz individuell ermittelt und anschließend gezielt beseitigt:
Im Modell spielt die ursprüngliche Erbinformation - als mittelrelevanter Kausalfaktor bewertet - auf den ersten Blick eine eher untergeordnete Rolle. Das liegt auch daran, dass sie im Modell als ein aus der Vergangenheit stammender Faktor eigentlich nur noch virtuell vorhanden, denn sie wird mit der ersten Zellteilung zur Zell-DNA und geht in dieser auf. Die Zell-DNA hat aber nicht den Status eines Kausalfaktors, sie ist ein Element des Proteinbiosyntheseprozesses. Darüber hinaus kann die ursprüngliche Erbinformation als einziger Faktor therapeutisch nachträglich nicht verändert werden.
Für das Konzept der Kausalfaktorenoptimierung bedeutet das kurz zusammengefasst:
Was echte Gendefekterkrankungen angeht, sind mit der RNA-Substitution direkt keine Verbesserungen zu erzielen. Dennoch bietet auch eine RNA-Substitution therapeutische Ansätze, denn dass ein bestimmtes Protein im gesamten Körper nicht synthetisiert wird und damit eine echte Erberkrankung vorliegt, muss nicht an dem Gen selber liegen. Denn es ist auch möglich, dass das Gen korrekt vorliegt, allerdings die zur Synthese nötigen ncRNA nicht synthetisiert oder fehlerhaft sind. Dann bestünde die Möglichkeit, mittels RNA-Substitution die Synthese des korrekt vorliegenden Gens anzukurbeln.
Die ncRNA-Substitution (Kapitel 7) hat die höchste Priorität aufgrund der hohen Bedeutung der ncRNA als wichtigste Kausalfaktorgruppe.
Erst seit einigen Jahren rückt die unüberschaubare Anzahl unterschiedlicher ncRNA‑Moleküle, zum Beispiel micro‑RNA, immer stärker in den Fokus der Forschung. Einige von ihnen wurden erst vor etwa 20 Jahren entdeckt, und über deren genregulierende Funktionen weiß man entsprechend wenig. Es wird viel Aufwand betrieben, die komplexen Funktionen verschiedener micro‑RNA zu verstehen. Das ist mit der Hoffnung verbunden, einzelne Moleküle künftig therapeutisch einsetzen zu können.
Auch die hier gewonnenen Erkenntnisse zeigen, dass micro‑RNA und andere ncRNA‑Moleküle eine wichtige Basis ursächlicher Therapien sind, jedoch im Rahmen einer völlig anderen Behandlungsstrategie.
So müssen u. a. die für die Genregulation notwendigen micro‑RNA zelltypspezifisch bzw. funktionsspezifisch in ihrer ganzen Artenfülle dort zur Verfügung gestellt werden, wo sie fehlen oder fehlerhaft sind. Dies gilt insbesondere bei einer durch somatische DNA‑Mutationen unterschiedlichen Ursprungs behinderten Proteinbiosynthese, was bei zahlreichen degenerativen Erkrankungen der Fall ist. Neben der Substitution zelltyp- und funktionsspezifischer micro‑RNA wäre es sinnvoll, weitere ncRNA‑Typen (beispielsweise Transfer‑RNA/tRNA) zu substituieren.
Auch bei vorwiegend funktionellen und strukturellen Schädigungen durch Lipidperoxidation innerer und äußerer Zellmembranen oder Proteinoxidation anderer Zellbestandteile besteht das Potential einer Regeneration geschädigten Zellgewebes durch Kausalfaktorenoptimierung. Die Substitution zelltyp- bzw. funktionsspezifischer ncRNA‑Moleküle erhält dabei mit zunehmendem Alter eine immer höhere Bedeutung, denn die Regenerationsfähigkeit des Gewebes nimmt aufgrund der immer problematischeren ncRNA‑Versorgung ab. Mittels ncRNA‑Substitution soll durch Korrektur und Aktivierung der Genregulation und der damit verbundenen Gesundung und Steigerung der Proteinbiosynthese und des Eiweißstoffwechsels die Regeneration geschädigten Gewebes angeregt werden.
Zum RNA-Therapiekonzept passt auch die Geschichte von der Lösung des Gordischen Knotens. Sie vermittelt anschaulich ein Bild der Funktionsweise der Kausalfaktorenoptimierung, insbesondere durch die Substitution nicht‑codierender Ribonukleinsäuren: Die Organgesundung gelingt bei vielen Erkrankungen im Allgemeinen und degenerativen Erkrankungen im Besonderen, wenn sich die zellspezifische Genregulation ‑ und damit die Proteinbiosynthese ‑ in allen betroffenen Organzellen wieder normalisiert. Das garantiert die Lösung komplexer Zellprobleme aller nachfolgenden Zellprozessebenen. Die Normalisierung der Proteinbiosynthese durch die Substitution fehlender oder fehlerhafter ncRNA-Moleküle ist das Schwert, mit dem die Probleme des komplexen, unübersichtlichen Zellstoffwechsels pariert werden.
Da die Entdeckung genregulatorisch wirksamer RNA nur wenige Jahre zurückliegt, besteht erst seit kurzem die Möglichkeit, bestimmte Probleme im Zusammenhang mit der Modulation der Proteinbiosynthese überhaupt zu erkennen. Ein wirkliches Verständnis ihrer Mechanismen ist noch in weiter Ferne. Dadurch hat sich noch nicht die Erkenntnis durchsetzen können, dass Zellprobleme hauptsächlich auf genregulatorischen Störungen der oberen Prozessebene zurückzuführen sind.
Mit den heute noch üblichen Behandlungsmethoden wird stattdessen versucht, Vorgänge der unteren Zellprozessebene zu reparieren oder sogar lediglich zu manipulieren. Ein „Herumdoktern“ an den Prozessen der unteren Ebene kann aber nicht die Lösung sein, denn da ist ‑ um eine bekannte Allegorie zu verwenden ‑ die Paste schon aus der Tube, und es wird schwierig, sie wieder dorthin zurückzubekommen. Mittels Kausalfaktorenoptimierung ‑ und vor allem ncRNA‑Substitution ‑ normalisiert sich die zuvor in Unordnung geratene Proteinbiosynthese wieder. Oder bildlich ausgedrückt: Die Paste bleibt da, wo sie hingehört, nämlich in der Tube.
ABBILDUNGEN G A/B: PRINZIP DER RNA-SUBSTITUTIONSTHERAPIE
Abbildungen Ga und Gb: Für degenerative Zellschäden und Zellalterung sind vor allem ncRNA‑Codemutationen verantwortlich, insbesondere die im Zeitablauf in allen Zellen entstehenden somatischen Mutationen. Generell ist es möglich, diese ncRNA‑Defizite mit von außen zugeführten ncRNA‑Molekülen auszugleichen. Dabei ist darauf zu achten, die ncRNA‑Moleküle in ihrer ganzen Artenfülle funktions- bzw. zelltypspezifisch zuzuführen. Nur so ist eine vollständige Korrektur der Modulation der Proteinbiosynthese und damit die Gesundung der Eiweißsynthese betroffener Zellen ‑ und damit des gesamten Organs ‑ möglich.
Um das zweite Behandlungsziel zur erreichen, sollten Strategien zur Beseitigung möglichst aller belastender und nervenschädigender externer Einflüsse gefunden werden, bei denen der Verdacht besteht, am Ausbruch oder der Verstärkung der Affektstörung beteiligt zu sein. Die Erarbeitung solcher Strategien ist Gegenstand des achten Kapitels.
Die Möglichkeiten bestehen beispielsweise in der Behandlung einer somatischen Grunderkrankung, einer langfristigen Vermeidung schädigender Umweltbelastungen oder Verhaltensweisen und dem Erkennen und Beseitigen der Quellen psychischer Überforderungen. Letzteres sollen vor allem psychotherapeutische Verfahren und Entspannungstechniken unterstützen.
Im dritten Teil werden die vorgestellten Modelle und Methoden auf andere Nervenerkrankungen übertragen und geprüft, ob sie auch hier anwendbar sind. Die Schwerpunkte liegen in einer kurzen Analyse und Bewertung verschiedener Demenzformen, von Epilepsie, Morbus Parkinson, HOPS, Schizophrenie und dem Tourettesyndrom.
Das Ergebnis ist nicht überraschend: Nach den hier erörterten Analysen beruhen fast alle zentralnervösen Erkrankungen auf gleichen oder ähnlichen pathologischen zellulär‑molekularen Mechanismen. Das führt zwangsläufig zu Schlussfolgerungen über zukünftige Behandlungsstrategien mit dazu geeigneten molekularen Substanzen in der neurologisch-psychiatrischen Breitenmedizin.
Hier noch die Auflösung des eingangs erwähnten 9‑Punkte‑Tests (→ Abbildung A). Neun Punkte sollten ‑ ohne den Stift abzusetzen oder eine Linie doppelt zu zeichnen ‑ geradlinig mit vier oder weniger Linien verbunden werden. Es gibt mehrere Möglichkeiten, Abbildung H zeigt eine davon.
ABBILDUNG H: EINE LÖSUNG DES 9-PUNKTE-TESTS
Abbildung H: Neun Punkte sollten mit maximal vier geraden Linien verbunden werden, ohne den Stift abzusetzen oder eine Linie doppelt zu zeichnen.
Um die Aufgabe bewältigen zu können, muss der quadratische Raum erweitert werden, im Beispiel unterhalb und rechts der Punkte. Nur dann ist eine Verbindung mit vier Linien möglich.
Die meisten Menschen verlassen bei ihrer Suche nach einer Lösung jedoch nicht den quadratischen Raum, den die Punkte suggerieren.
Kognitionspsychologen erklären das mit der Tendenz des Menschen zur Gestaltwahrnehmung. Aus den neun Punkten wird intuitiv ein Quadrat gebildet und als vorgegeben betrachtet. Erst wenn sich eine Versuchsperson von dieser Vorstellung löst, ist sie in Lage, ein Resultat wie das in Abbildung H gezeigte zu erzielen.
Folgendes sollte man zur Lösung komplexer, scheinbar unlösbarer Probleme daher tun: sich von abgetretenen Erkenntnispfaden fernhalten oder diese frühzeitig verlassen und keine vordergründigen Lösungswege verfolgen. Ebenfalls ist es ratsam, häufiger zurückzutreten, um mit Hilfe eines größeren Abstands eine bessere Übersicht über die Aufgabenstellung zu gewinnen.
Diese Maximen sind von jetzt an die Richtschnur und ermöglichen es überhaupt, die Modelle zu erarbeiten und die Suche nach Lösungen voranzutreiben, die auf den folgenden Seiten niedergeschrieben sind. Jeder ist nochmals herzlich dazu eingeladen, sich mit auf diese spannende Suche zu begeben.
Auf dieser Seite folgen nun Zusammenfassungen der Inhalte aller zehn Kapitel, die sich etwas detaillierter auf das Wesentliche beschränken. Mit Hilfe der Sprungmarken (Pfeil nach oben) gelangt man entweder zurück zum Seitenanfang oder wechselt ins jeweilige ausführliche Kapitel (Pfeil nach rechts).
Berlin, im Oktober 2024
Hermann Schurz
Was kennzeichnet die Ursachen einer Depression? Sind funktionelle oder strukturelle Veränderungen im Gehirn für den Ausbruch einer Affekterkrankung verantwortlich? Welche Hirnzellarten könnten hier eine Rolle spielen? Wie sind individuelle Symptome und Intensitäten einer Affektiven Störung zu erklären? Haben hier bestimmte Hirnareale eine besondere Bedeutung? Welche Einflüsse haben belastende Situationen auf die Entstehung von Affekterkrankungen?
Im ersten Teil mit den Kapiteln 1 bis 4 dreht sich alles darum, diese und weitere Fragen plausibel und nachvollziehbar zu beantworten. Ziel ist, die Erkrankung und ihre Entstehung ursächlich und umfassend zu begründen.
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Ein großer Teil der gegen Depressionserkrankungen verordneten Medikamente basiert pharmakologisch auf der Monoaminmangelhypothese (auch: Monoaminhypothese). Die Präparate manipulieren an bestimmten Stellen im Gehirn den Monoaminstoffwechsel, insbesondere von Serotonin oder Noradrenalin. Bis heute gibt es keine gesicherten wissenschaftlichen Aussagen über die Ursachen eines Mangels, und ob ein solcher Mangel im Erkrankungsfall überhaupt besteht. Die Funktionen vieler Botenstoffe sind unklar, vor allem die des Serotonins, das häufig fahrlässig und entgegen allen wissenschaftlichen Erkenntnissen als „Glückshormon“ bezeichnet wird. Wichtige Fragen werden nicht ausreichend erörtert, zum Beispiel auf welchen hirnorganischen Defiziten affektive Erkrankungen grundsätzlich beruhen könnten, oder welche Bedeutung unterschiedliche Hirnstrukturen bei der Erkrankungsgenese haben. Mangels wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse wird häufig die nebulöse Erklärung einer „Stoffwechselentgleisung im Gehirn“ als hirnorganische Ursache einer Depression bemüht.
Die Monoaminmangelhypothese wird von Fachleuten und Erkrankten kritisiert, ebenfalls die unzureichende Wirksamkeit der Psychopharmaka, von denen etwa 2/3 der Patienten nicht oder nur ungenügend profitieren. Wissenschaftliche Studien und praktische Erfahrungen zeigen deren Defizite in der Depressionsbehandlung.
Im ersten Schritt werden 14 Schwächen der Monoaminmangelhypothese herausgearbeitet. Auf Grundlage einer Mikrobetrachtung von Hirnzellen und einer Makrobetrachtung unterschiedlicher Hirnregionen werden drei Ursachenhypothesen als Gegenentwurf formuliert.
Der Kern der Mikrobetrachtung ist ein erweitertes Verständnis neuronaler Dysfunktionalität und der Komplexität von Störungen der neuronalen Reizverarbeitung bei affektiven Erkrankungen (Hypothese 1) sowie die Annahme, dass auch dysfunktionale Gliazellen weitere potentielle Erkrankungsursachen darstellen (Hypothese 2).
Krankhafte Gliazellenveränderungen werden im Zusammenhang mit Affektiven Störungen in der Regel wenig beachtet, obwohl Gliazellen ‑ neben den Neuronen ‑ die zweite wichtige Zellart des Gehirns darstellen und komplexe Aufgaben bei der Erhaltung der Funktionsfähigkeit von Neuronen übernehmen. Gliazellen beeinflussen Reizentstehung, ‑weiterleitung und ‑übertragung direkt und indirekt. Spezialisierte Gliazellen steuern die Neurogenese und das Immunsystem und sind wesentlich an der Gesunderhaltung des Gehirns beteiligt. Funktionsgestörte Gliazellen kommen als (Mit‑)Verursacher einer affektiven Erkrankung ohne Zweifel infrage.
Die Makrobetrachtung umfasst einen funktionalen Vergleich verschiedener Hirnareale und ‑strukturen und eine Bewertung ihrer Anteile an der Entstehung und Verarbeitung von Emotionen bzw. Affekten. Die daraus abgeleitete Hypothese 3 postuliert einen Zusammenhang zwischen einer Depression und einer Erkrankung affektrelevanter Hirnstrukturen. Folgende Strukturen werden analysiert:
Die beiden Betrachtungen von Mikro‑ und Makroebene reichen nicht aus, um konkrete Ursachen Affektiver Störungen zu beschreiben. Es fehlt noch eine vollständige Beschreibung der Charakteristiken erkrankter Hirnstrukturen, die beide Ebenen sinnvoll miteinander verknüpfen und auch die Darstellung einer zeitlichen Entwicklung ermöglichen.
Mit dem Drei‑Stufen‑Basismodell wird diese Lücke behoben. Das Modell beschreibt den Prozess einer degenerativen Entwicklung und berücksichtigt neben den entscheidenden Reizverarbeitungsstörungen zwei weitere funktionelle Probleme gemäß Hypothese 1, nämlich den Abbau der Nervenzellenvernetzung und den Nervenzellenuntergang.
Mit der Kombination von Makrobetrachtung und Basismodell sind jetzt auch Aussagen über die Hintergründe charakteristischer Merkmale affektiver Erkrankungen möglich, beispielsweise über psychosomatische Aspekte bzw. die psychische Komorbidität, Symptomvielfalt, die Gründe von Chronifizierung oder verschiedener Erkrankungsgrade. Auch das Phänomen individueller Resilienz lässt sich anhand der Modelle nachvollziehbar begründen.
Neuere Untersuchungsmethoden mit Hilfe der strukturellen oder funktionellen Magnetresonanztomographie (MRT, fMRT) bzw. der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) stützen die Kausaltheorie, denn sie weisen bei affektiven Erkrankungen pathologische Veränderungen in affektrelevanten Hirnarealen nach.
Die Kausaltheorie beschreibt funktionell-strukturelle Hirnveränderungen bei affektiven Erkrankungen, ohne dafür verantwortliche sekundäre Auslöser zu benennen. Sekundäre Auslöser sind in erster Linie noch zu bestimmende Zellschwachstellen und Schadeinflüsse von innen und außerhalb, beispielsweise der Energiestoffwechsel, schädliche Strahlung oder Zellgifte.
Die Identifizierung der verschiedenen Schadeinflüsse erfolgt daher auf einer zweiten Ursachen-Wirkungs-Ebene. Zentral ist die auf Rudolf Virchows Zellpathologielehre beruhende Annahme, dass sämtliche Zellfunktionen von der Funktionstüchtigkeit innerer Zellstoffwechselprozesse abhängig sind. Diese Annahme begründet einen ersten groben Kausalzusammenhang zwischen Zellfunktionen und Zellprozessen. Schadeinflüsse der zweiten Ursachenebene verursachen über Störungen der Zellprozesse degenerative Veränderungen und Funktionsstörungen.
Durch die Verknüpfung beider Ursachenebenen und die Berücksichtigung vieler verschiedener Schadeinflüsse ergibt sich ein multikausales Modell.
Um potentiellen Erkrankungsursachen überhaupt auf die Spur kommen zu können, wird ein einfaches Zellmodell benötigt, das sich auf die wesentlichen Stoffwechselprozesse konzentriert.
Die Erarbeitung eines solchen Modells ist daher ein Zwischenziel auf dem Weg, Zellschwachstellen zu identifizieren, zu analysieren und zu bewerten.
Das Zellprozessmodell vereint vier grundlegende Prozessbereiche:
Peptide und deren Synthese sind zentrale Modellbestandteile, denn sie bilden die Grundlage sämtlicher Zellprozesse. Jeder Prozess wird als eine durchgehende Abfolge vom Ablesen der genetischen Information auf der DNA über die Proteinbiosynthese bis zum einsatzfähigen Enzym bzw. Protein ‑ einschließlich dessen Aktivitäten ‑ verstanden.
Dabei übernimmt die Proteinbiosynthese eine Sonderrolle als ein allen nachfolgenden Abläufen vorgelagerter Hauptprozess auf einer oberen Zellprozessebene. Enzyme, Proteine und die meisten mit ihnen verbundenen Abläufe bilden die untere Zellprozessebene.
Lediglich die Enzyme und Proteine zur Durchführung der Proteinbiosynthese machen eine Ausnahme. Sie gehören als Substanzen zwar zur unteren Prozessebene, ihre Aktivitäten im Rahmen der Proteinsynthese jedoch zur oberen Ebene. Daraus resultiert ein Kreislauf zwischen der unteren und oberen Zellprozessebene bei der Proteinbiosynthese.
Auch Kern- und Zellteilung weisen einen vergleichbaren Prozesskreislauf auf zwischen der Mutterzelle und den beiden aus ihr hervorgehenden Tochterzellen.
Darüber hinaus stehen die Energieversorgungsprozesse mit sämtlichen Prozessen in Verbindung, denn ohne Energie ist kein Stoffwechsel denkbar.
Daraus folgen vier wichtige Prozessmodell-Charakteristika:
Die Proteinbiosynthese wird aufgrund ihrer fundamentalen Bedeutung ausführlicher beschrieben.
Zellprozesse benötigen neben Peptiden, das sind insbesondere Enzyme und Proteine, und Monoaminen noch weitere Substanzen, die als Faktoren bezeichnet werden. Ein Faktor übernimmt mindestens eine der nachfolgenden wichtigen Funktionen:
Bei den Faktoren handelt es sich um folgende acht Substanzen:
Hinweis: Einige Substanzen, beispielsweise die fünf Nukleinbasen Adenin, Guanin, Cytosin, Thymin und Uracil, Hormone oder Mucopolysaccharide werden im Modell nicht gesondert als Faktoren berücksichtigt. So sind Basen als Elemente von DNA und RNA Modellbestandteile. Hormone oder Mucopolysaccharide werden mithilfe von Peptiden und auf Grundlage der acht Faktoren synthetisiert und sind somit im Modell indirekt repräsentiert.
Um herauszufinden, welche Zellbereiche unabhängig von äußeren Einflüssen besonders störanfällig sind, werden die dortigen Ursachen‑Wirkungs‑Zusammenhänge auf Grundlage des Zellprozessmodells analysiert.
Da das Zellmodell zwei Prozesskreisläufe und eine komplexe Verknüpfung des Energiestoffwechsels mit allen anderen Prozessen aufweist, ist eine absolute Bestimmung von Ursachen-Wirkungs-Zusammenhängen, das heißt einer absoluten Kausalität, nicht möglich. Durch eine isolierte Betrachtung wichtiger Teilbereiche lassen sich jedoch relative Kausalitäten definieren, was zur Identifikation von Zellschwachstellen ausreicht.
Ein bedeutender Bereich des Zellstoffwechsels ist die Proteinbiosynthese und ihre beiden Teilprozesse Transkription und Translation, mit denen sämtliche Peptide, hauptsächlich als Enzyme und Proteine, hergestellt werden.
Eine zentrale (relative) Kausalbeziehung lautet daher:
Transkription → mRNA → Translation → Peptide
Das scheint trivial, ist aber sehr bedeutend und wird in der Regel wenig beachtet: Sämtliche Peptide lassen sich kausal auf die Proteinbiosynthese (= Transkription und Translation) zurückführen.
Da die restlichen Zellprozesse nach der Proteinbiosynthese grundsätzlich auf Peptidaktivitäten basieren, kann eine allgemeingültige Prozesskette abgeleitet werden:
Transkription → mRNA → Translation → Peptide → Zellprozesse (Peptidaktivitäten)
Die zentrale Erkenntnis lautet: Die Proteinbiosynthese ist kein isolierter Prozess, sondern ein Bestandteil jedes einzelnen Zellablaufs. Dies hat weitreichende Folgen für die weiteren Analysen und weicht von allen traditionellen Auffassungen ab, bei denen Proteinbiosynthese und Folgeprozesse getrennt voneinander betrachtet werden, was die nachfolgende Darstellung beispielhaft veranschaulicht:
Zellprozess 1 (Transkription)
Zellprozess 2 (Translation)
Zellprozess 3 (...)
Zellprozess 4 (...)
...
...
Zellprozess 50.000 (...)
...
Zellprozess X (...)
Eine solche Sicht wird der Tatsache jedoch nicht gerecht, dass es eine Ursachen-Wirkungs-Beziehung zwischen Proteinbiosynthese und sämtlichen Zellprozessen gibt. Diese traditionelle Sicht widerspricht damit nicht nur den tatsächlichen biologischen Gegebenheiten in einer Zelle, sie macht es darüber hinaus auch unmöglich, Zellschwachstellen klar einzugrenzen.
Eine korrekte Modelldarstellung von Zellprozessen wäre demnach folgende:
Transkription Gen A → mRNA A → Translation → Peptid A → Zellprozess A
Transkription Gen B → mRNA B → Translation → Peptid B → Zellprozess B
Transkription Gen C → mRNA C → Translation → Peptid C → Zellprozess C
Transkription Gen D → mRNA D → Translation → Peptid D → Zellprozess D
...
...
Transkription Gen X → mRNA X → Translation → Peptid X → Zellprozess X
Mit dieser Sichtweise erhält die Proteinbiosynthese den ihr zustehenden höchsten Stellenwert des Zellstoffwechsels.
Nach dieser prozessorientierten Analyse werden sämtliche Substanzen und Substanzengruppen analysiert, die ebenfalls Bestandteile des Prozessmodells sind:
Die beiden erstgenannten Substanzen, die Nukleinsäuren Zell‑DNA und mRNA, üben während des Proteinbiosyntheseprozesses eine rein passive Informationsübertragungsfunktion aus.
Gleichwohl können sie während der Prozesse Schaden erleiden. Beispielsweise unterliegt die Zell‑DNA einer somatischen Mutationsgefahr. Somatische Mutationen sind ‑ meist unerwünschte ‑ Veränderungen von DNA‑Basensequenzen oder ganzen Chromosomen in einer Zelle.
Die verbleibenden neun Substanzen bzw. Substanzengruppen der Peptide und Faktoren gehören im Gegensatz zur Zell‑DNA und mRNA zu den aktiven Akteuren der Prozesse und stellen die Treiber des Zellgeschehens dar:
Peptide + acht Faktoren/Faktorengruppen => Zellprozesse
Damit besteht eine faktische Deckungsgleichheit von neun Substanzen bzw. Substanzengruppen mit den Zellprozessen, was als Kongruënz bezeichnet wird: Zellprozesse basieren ausschließlich auf der Existenz dieser neun Substanzen/-gruppen. Bei Anwesenheit dieser Substanzen in den benötigten Mengen und korrekten Formen entfalten sich die Zellprozesse automatisch fehlerfrei.
Ein Blick auf das Prozessmodell zeigt weiter, dass Peptide durch das Zusammenspiel der Faktoren während der Proteinbiosynthese entstehen. Daher müssen sie nicht mehr Bestandteile der Kongruënzannahme sein, sie werden ‑ mathematisch ausgedrückt ‑ „gekürzt“. Eine andere Argumentation basiert darauf, die Peptide als Endprodukte des Hauptprozesses aufzufassen. In diesem Falle sind sie schon Bestandteile der rechten Prozessseite der Kausalbeziehung, vergleichbar mit Zell‑DNA und mRNA, was aber zum gleichen Ergebnis führt. Die Kausalbeziehung vereinfacht sich zu:
Acht Faktoren/Faktorengruppen => Zellprozesse
Sämtliche Zellprozesse basieren damit ausschließlich auf der Existenz von acht Faktoren/Faktorengruppen, was auch als mathematische Funktion ausgedrückt werden kann:
Zellprozesse = f (Faktoren/Faktorengruppen)
Nur wenn eine Zelle ausreichend über alle sieben stoffwechselaktiven Faktoren auf Grundlage einer fehlerfreien ursprünglichen Erbinformation als achtem Faktor verfügt, ist die korrekte Synthese aller Enzyme und Proteine und damit auch der optimale Ablauf aller Prozesse gewährleistet.
Wenn aber Faktoren für Zellprozesse verantwortlich sind, müssen sie zwangsläufig im Falle von Fehlversorgungen jedweder Art auch für Zellprozessfehler (mit‑)verantwortlich sein:
Zellprozessfehler = f (Fehlerhafte Faktoren/Faktorengruppen)
Acht Faktoren(-gruppen) ergeben somit acht Zellschwachstellen, die jeweils durch Faktorenmängel bzw. Faktorenmangelversorgung charakterisiert sind:
Die ursprüngliche Kongruënzannahme, die acht Faktoren und Peptide umfasst, kann jetzt um die Gruppe der Peptide reduziert werden. Es besteht eine Kongruënz schon zwischen acht Faktoren und sämtlichen Prozessen. Das wird als Postulat der Dominanz der Faktoren über die Prozesse oder kurz als Dominanzpostulat bezeichnet.
Aufgrund des dominanten und kausalen Charakters der Faktoren und ihres Potentials, Hauptprozess (obere Prozessebene) und Nachfolgeprozesse (untere Prozessebene) zu stören, werden die acht Faktoren bzw. Faktorengruppen als Kausalfaktoren bezeichnet:
Zellprozesse = f (Kausalfaktoren)
Neben acht Zellschwachstellen drohen einer Zelle jedoch auch Gefahren durch schadhafte Veränderungen an der DNA‑Vorlage oder mRNA, was weiter oben schon kurz angedeutet wurde, in der Analyse aber noch zu berücksichtigen ist.
Es stellen sich drei Fragen, insbesondere die letzte Frage ist hier von Bedeutung:
DNA- oder mRNA-Veränderungen können Folgen von Codierungsfehlern während einer Informationsübertragung sein: von DNA auf DNA bei der Replikation, von DNA auf mRNA bei der Transkription und von mRNA auf Peptide während der Translation. Ebenfalls entstehen DNA‑Fehler auch unabhängig von der Informationsübertragung aufgrund anderer zellphysiologischer Vorgänge. Vergleichbares gilt auch für größere Chromosomenschäden.
Entscheidend sind aber ausschließlich Veränderungen von Gen‑ oder ncRNA‑Codes an der DNA‑Vorlage, denn nur sie haben das Potential, sich dauerhaft zu manifestieren und den Zellstoffwechsel langfristig zu schädigen. Die Problematik von mRNA-Schäden aufgrund physiologischer Vorgänge oder der Informationsübertragung spielt im Zellprozessmodell daher keine Rolle.
Zellen verfügen über verschiedene DNA‑Reparaturverfahren. Scheitert eine DNA‑Reparatur, werden die nun beständigen DNA‑Veränderungen als somatische Mutationen bezeichnet. Somatische Mutationen können die Proteinbiosynthese negativ beeinflussen, indem sie dauerhaft zu schädlichen ncRNA- und Peptidveränderungen auch in den nachfolgenden Tochterzellen führen.
DNA‑Reparaturprozesse sind ‑ wie alle anderen Prozesse auch ‑ von der Qualität und Verfügbarkeit der Kausalfaktoren abhängig (→ Dominanzpostulat). Damit werden Art und Anzahl der DNA‑Mutationen zellphysiologisch von Kausalfaktoren bzw. ihren Mängeln bestimmt: Die besondere Rolle der Kausalfaktoren bleibt erhalten.
Zwar existiert mit der DNA und der Gefahr somatischer Mutationen eine weitere, neunte Zellschwachstelle. Die Kausalfaktoren bleiben aber weiterhin die entscheidenden und damit auch problematischen Zellsubstanzen.
Im letzten Schritt wird das Fehlerverursacherpotential bzw. die allgemeine zellphysiologische Relevanz jedes Kausalfaktors bestimmt, für Prozessstörungen potentiell verantwortlich oder mitverantwortlich zu sein.
Bisher liegt ja nur die Erkenntnis vor, dass hauptsächlich Probleme mit acht Kausalfaktoren Zellprozessstörungen verantworten. Diese Erkenntnis ist zwar richtig und wichtig, hilft aber praktisch nicht weiter, da es sich um eine unüberschaubare Menge unterschiedlicher Einzelsubstanzen handelt.
Auf den ersten Blick erscheinen alle acht Kausalfaktoren gleich wichtig und unverzichtbar. Bestimmte Kausalfaktoren müssen jedoch im Vergleich mit anderen Kausalfaktoren bedeutender sein, da sie im Gegensatz zu diesen an besonders sensiblen Stellen in der Zelle aktiv sind.
Die Bestimmung der zellphysiologischen Relevanz erfolgt mit Hilfe von Ursachen-Wirkungs-Analysen und anhand geeigneter Relevanzkriterien. Aufgrund einer von der Außenwelt isolierten Analyse handelt sich um eine allgemein-abstrakte Bewertung. Es werden weder bestimmte Zelltypen, Erkrankungen, Veränderungen oder irgendwelche sonstigen Einflüsse von außerhalb berücksichtigt.
Es ergeben sich für Kausalfaktoren vier Relevanzklassen:
Alle Kausalfaktoren können einer der Relevanzklasse 2, 3 oder 4 zugeordnet werden.
Einzig die Kausalfaktorgruppe der nicht-codierenden Ribonukleinsäuren (ncRNA) erreicht die höchste Relevanzklasse 4. Bei Zellprozessstörungen ist daher nicht nur von einer hohen Wahrscheinlichkeit ihrer Mitbeteiligung auszugehen, sondern auch davon, dass sie absolut gesehen das größte Störpotential aller dysfunktionalen Kausalfaktoren haben.
Beides liegt unter anderem an deren großer Bedeutung für eine funktionierende Proteinbiosynthese und dem Umstand, dass die Gruppe der ncRNA als einzige unter den stoffwechselaktiven Kausalfaktoren auf der DNA codiert sind und damit ausnahmslos in der Zelle selber synthetisiert werden. Damit sind nur sie sowohl durch Mutationen der ursprünglichen elterlichen Erbinformation als auch durch somatische DNA‑Mutationen gefährdet.
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Kapitel 4 zeigt Verbindungen und Konsequenzen zwischen dem kausaltheoretischen Szenario (→ Kapitel 1) und den Ergebnissen der Kapitel 2 und 3: Wie ist es möglich, dass neun Zellschwachstellen (Teil A) und exogene (Umwelt-)Einflüsse bzw. exogene Stressoren/Noxen (Teil B) in einer Affektstörung münden?
Nach der Ermittlung der allgemeinen Relevanz in Kapitel 3 steht damit die spezielle Relevanz der Zellschwachstellen bzw. Umwelteinflüsse im Zusammenhang mit Affektstörungen im Vordergrund. Nerven- und Gliazellen werden von außen und innen mit verschiedenen Kausalfaktoren versorgt und sind auf vielfältige Weise mit ihrer Umwelt verbunden und von ihr abhängig. Darin liegt eine Gefahr, denn es drohen vielerlei potentiell schädigende Einflüsse.
Die Analyse erfolgt auf der Grundlage hier erörterter Thesen und Modelle. Falls möglich und sinnvoll werden empirische Untersuchungen, Forschungsergebnisse, weitere Theorien oder Erkenntnisse der Erfahrungsmedizin berücksichtigt. Da eine große Anzahl von Noxen in die Untersuchungen einbezogen werden, zwischen denen es manchmal Zusammenhänge gibt und die sich gegenseitig beeinflussen, können redundante Darstellungen nicht immer vermieden werden.
Die Darstellungen in Kapitel 4 sind umfangbedingt zweigeteilt. Teil 4 A beschäftigt sich mit den Folgen von neun Zellschwachstellen, während Teil 4 B sich den restlichen von außen einwirkenden psychosozialen, abiotischen und biotischen Noxen widmet.
In Teil 4 A erfolgt zunächst die Darstellung der Konsequenzen von DNA‑Mutationen, danach werden Ursachen und Folgen dysfunktionaler Kausalfaktoren erörtert. Die Kausalfaktoren werden in der Reihenfolge ihrer allgemeinen zellphysiologischen Relevanz diskutiert, wobei mit den geringrelevanten Faktoren begonnen wird:
Im Teil 4 B werden die Zusammenhänge zwischen Affektstörungen und folgenden Noxen erörtert:
Die Ergebnisse von Kapitel 4 bestätigen die multifaktorielle Ätiopathogenese auf der Grundlage eines integrierten Gesamtmodells: Jeder Mensch ist im Laufe seines Lebens verschiedenen schädlichen Noxen ausgesetzt, die sein Gehirn kontinuierlich belasten, sich ggf. akkumulieren und die in der Kausaltheorie postulierten hirnorganischen Schädigungen hervorrufen.
Somit steigt die Gefahr des Ausbruchs, Fortbestands oder der Verstärkung einer psychiatrischen Erkrankung, zum Beispiel einer Affektstörung, mit jeder einzelnen Noxe.
Die Anamnese einer Affektiven Störung und Beurteilung ihrer speziellen Entstehungsgründe muss daher im Rahmen einer individuellen Ursachensuche auf beiden Kausalebenen erfolgen und alle endogenen und exogenen Einflüsse aufgrund der besonderen Lebensgeschichte eines Patienten berücksichtigen.
Eine auf diesen Grundsätzen durchgeführte Anamnese ist nicht nur der Schlüssel zum Verständnis individueller Krankenhistorien, sie ist vor allem eine wichtige Grundlage zur Erarbeitung und Durchführung individuell zugeschnittener kausaler Behandlungskonzepte.
Im zweiten Teil werden Therapiekonzepte gegen Affekterkrankungen diskutiert, die den Anforderungen einer ursächlichen Behandlung nach den hier erarbeiteten Modellen genügen.
Es werden zwei Behandlungsebenen unterschieden, die sich an den beiden Kausalebenen der Modelle orientieren.
Auf Ebene 1 wird die Behandlung auf das dysfunktionale zellulär‑organische System fokussiert, auf Ebene 2 stehen die in Kapitel 4 diskutierten externe Einflüsse auf das zellulär-organische System im Vordergrund:
Beide Ebenen sind aus naheliegenden Gründen nicht strikt voneinander zu trennen, da die Versorgung mit Kausalfaktoren hauptsächlich exogenen Einflüssen unterliegt (→ Kapitel 4). Diese Zusammenhänge werden bei der Diskussion berücksichtigt.
Mit den Inhalten der folgenden Kapitel sind ausdrücklich keine Heilversprechen verbunden. Alle dargestellten Therapiestrategien beruhen auf den hier erarbeiteten Theorien und Modellen und bilden die Grundlage für Vorschläge künftiger Behandlungsstandards neurologisch-psychiatrischer Erkrankungen. Sie sind nicht als Anleitung zur Selbstmedikation geeignet. Bei gesundheitlichen Problemen sollte umgehend ein Arzt oder Heilpraktiker konsultiert werden.
Im nachfolgenden Kapitel 5 stehen zunächst etablierte symptomatische Behandlungsverfahren im Mittelpunkt.
Symptomatische und pseudo-kausale Therapien, die lediglich auf die Beseitigung von Symptomen einer Affektiven Störung zielen, werden auf Grundlage hier erarbeiteter Thesen und Modelle analysiert.
Zunächst sind das die wichtigsten Antidepressiva:
Für einen Teil der Patienten sind diese Medikamente durchaus hilfreich, auch wenn sie die Erkrankung nicht heilen können. Bei einem großen Teil Betroffener wiederum sind sie völlig wirkungslos oder wirken nur unzureichend. Das sind vor allem Patienten, bei denen therapieresistente Affektive Störungen diagnostiziert werden. Es werden Hypothesen formuliert, welche Gründe es hierfür geben kann.
Aus der Gruppe symptomatischer nicht medikamentöser Behandlungen werden thematisiert:
Die Darstellung der orthomolekularen Therapie mit hoch dosierten Mikronährstoffen und Aminosäuren (ohne Antioxidantien) erfolgt ebenfalls an dieser Stelle.
Die orthomolekulare Therapie ist abzugrenzen von der Mikronährstoffausgleichstherapie, die nachweisbare Mikronährstoffdefizite (z. B. Vitamin B12 bei B12-Mangel) beseitigt, und der Therapie mit Antioxidantien, welche die Zahl somatischer und durch oxidativen Stress bedingte DNA‑Mutationen verringern soll. Diese werden als ursächliche Verfahren bewertet, da bei ihnen Kausalfaktoren zum Einsatz kommen (→ Kapitel 6).
Sechs der stoffwechselaktiven Kausalfaktoren werden dem Körper überwiegend über die Nahrung bzw. Atmung zugeführt. Sie haben aufgrund der hier getroffenen Bewertungen (→ Kapitel 3) bei Mangelzuständen bzw. Dysfunktionalität zellphysiologisch eine geringe Relevanz (Aminosäuren, Mikronährstoffe, Lipide/Lipoïde, Wasser) bis mittlere Relevanz (Glukose, Sauerstoff) Zellstörungen zu verursachen.
Dabei handelt es sich um eine Durchschnittsbewertung. Bei einzelnen Patienten kann das anders sein und hängt vor allem von den Lebensumständen ab. So beeinflussen bestimmte chronische Erkrankungen oder eine allgemeine Nahrungsmittelknappheit, zum Beispiel in Ländern der 3. Welt, die Versorgungssituation negativ und dann sind diese Kausalfaktoren für Betroffene natürlich relevanter im Vergleich zu Patienten, die von diesen Situationen nicht betroffen sind.
Die Einsatzmöglichkeiten und Grenzen der Verfahren werden in der Reihenfolge der durchschnittlichen Relevanz der zum Einsatz kommenden Kausalfaktoren beschrieben:
Die Gruppe der nicht‑codierenden Ribonukleinsäuren (ncRNA) hat die höchste zellphysiologische Relevanz unter den Kausalfaktoren. Die ncRNA‑Moleküle werden nicht ‑ wie die anderen stoffwechselaktiven Kausalfaktoren ‑ über Nahrung oder Atmung zugeführt, sondern in gesunden Zellen bedarfsgerecht durch Transkription synthetisiert.
Die Codes der ncRNA-Moleküle befinden sich auf dem gesamten Erbgut und werden zelltypspezifisch abgelesen. Die Forschungsergebnisse der letzten Jahre belegen, dass das menschliche Erbgut hauptsächlich ncRNA-Codes enthält, während die Zahl der Gencodes, die durch Translation in Proteine und Enzyme übersetzt werden, demgegenüber vergleichsweise gering sind.
Bei durch ncRNA-Mangel verursachten primären Proteinbiosynthesestörungen bestehen unter den Modellannahmen Einsatzmöglichkeiten exogener ncRNA. Ebenfalls sind exogene ncRNA zur allgemeinen Aktivierung der Proteinbiosynthese geeignet.
Eine primär gestörte Proteinbiosynthese* ist das Resultat vor allem...
Mit der ncRNA-Substitution werden zwei Behandlungsziele verfolgt:
Die Strategie der ncRNA-Substitutionstherapie kann allegorisch mit dem Bild von der Paste beschrieben werden, die in der Tube bleiben muss, weil man sie nicht mehr dorthin zurückbekommt. So schafft eine durch Genregulationsfehler primär gestörte Proteinbiosynthese unzählige Probleme auf der unteren Zellprozessebene, die von dort aus nachträglich nicht mehr oder maximal unzulänglich korrigiert werden können. Daher muss dafür Sorge getragen werden, dass die übergeordnete Proteinbiosynthese optimal durchgeführt wird, und die „Paste in der Tube bleibt“. Dagegen wird mit den meisten konventionellen Therapiekonzepten versucht, durch Interventionen auf der unteren Prozessebene die „Paste wieder in die Tube zu drücken“, was aber nicht gelingen kann.
Einen sehr anschaulichen Vergleich ermöglicht darüber hinaus Plutarch mit seiner Geschichte der Auflösung des Gordischen Knotens. Die Substitution zelltypspezifischer RNA löst den Knoten komplexer und vielzahliger Zellprozessprobleme der unteren Zellprozessebene, indem sie - mit Unterstützung der restlichen Kausalfaktoren - die fehlerhafte Genregulation der oberen Zellprozessebene normalisiert. Sie schafft so die Voraussetzungen, dass sich sämtliche der Proteinbiosynthese nachfolgenden Zellprozesse ebenfalls wieder normalisieren. Das aus einer Vielzahl von Zellen bestehende erkrankte Organ erhält die Voraussetzungen zu einer wesentlichen oder sogar vollständigen Regeneration, da alle unterschiedlichen Organzelltypen mit den fehlenden zellspezifischen RNA versorgt werden.
Auswahl und Einsatz exogener ncRNA sind genau auf den Patientenbedarf abzustimmen, wobei mehrere Fragestellungen berücksichtigt werden müssen:
Im letzten Kapitel von Teil II geht es um Strategien gegen chronisch‑somatische Grunderkrankungen bzw. schädliche Umweltbedingungen mit ihren negativen Auswirkungen auf das Zentralnervensystem. Das Gleiche gilt für alle anderen ungünstigen Lebenssituationen, die (Dauer‑)Stress zur Folge haben, zum Beispiel psychische Belastungen oder ein toxisches soziales bzw. familiäres Umfeld. Alle diese Einflüsse haben das Potential, eine Affekterkrankung auszulösen oder zu verstärken (→ Kapitel 4) und behindern den Genesungsprozess.
Chronische Erkrankungen des Körpers müssen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf das Gehirn bewertet und behandelt werden. Dafür ist ‑ neben herkömmlichen Behandlungsmethoden ‑ auch der (zusätzliche) therapeutische Einsatz zur Verfügung stehender Kausalfaktoren in Betracht zu ziehen, was insbesondere für exogene ncRNA gilt. Letztere vor allem dann, wenn die Erkrankung auf konservativem Wege nur schwer in den Griff zu bekommen ist. Eine ausführliche Darstellung würde den Rahmen dieser Publikation sprengen, so dass sie nur knapp erfolgt und an anderer Stelle fortgesetzt werden muss.
Darüber hinaus sind Situationen zu vermeiden, in denen sich ein Patient ständig erkrankungsverursachenden Situationen aussetzt. Dazu gehört beispielsweise auch die Beseitigung von Lichtmangel oder die Beendigung eines Missbrauchs psychotroper Substanzen.
Zielorientierte tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapien und Verhaltenstherapien sollen Hilfestellungen im Alltag bieten. Mit ihrer Hilfe werden psychosoziale Stressfaktoren identifiziert und dem Patienten Vermeidungsstrategien eröffnet. Zusammen mit dem Einsatz von Entspannungstechniken soll auf diese Weise emotionaler und somatischer Stress reduziert werden.
Die wichtigsten Psychotherapie- und Entspannungsverfahren werden hinsichtlich beider Geschichtspunkte beschrieben und bewertet:
Im dritten und letzten Teil (Kapitel 9 und 10) wird geprüft, ob die bisher erarbeiteten Modelle auf andere Nervenerkrankungen übertragbar sind.
Das Resultat ist nicht überraschend: Fast alle zentralnervösen Erkrankungen beruhen auf pathologischen zellulär-molekularen Mechanismen, die auch für Affektstörungen charakteristisch sind.
Diese Einsicht ermöglicht es nun, die schon gegen Affektstörungen erörterten Behandlungsstrategien auch im Zusammenhang mit anderen zentralnervösen Erkrankungen zu diskutieren.
Die Modelle und Erkenntnisse aus der Analyse Affektiver Störungen bilden die Grundlagen für eine Kurzanalyse anderer neurologisch-psychiatrischer Erkrankungen und für die Diskussion kausaler Behandlungsmöglichkeiten.
Dabei geht es nicht nur um Heilung. Viele mit Oligophrenien oder sonstigen neurologischen Ausfällen einhergehende Erkrankungen, beispielsweise Trisomien oder Autismus, sind nicht heilbar im engeren Sinn. Jedoch kann die Substitution vor allem proteinsynthesesteuernder RNA dabei helfen, neurologische Symptome zu verringern durch eine gezielte Unterstützung bei Entwicklung und Optimierung des zentralen Nervensystems im Sinne einer neurologisch-kognitiven Rehabilitation.
Die Überlegungen werden anhand einer an die jeweilige Erkrankung modifizierten Kausaltheorie durchgeführt, die sowohl die Mikro- als auch Makrobetrachtung und das Drei-Stufen-Modell betreffen. Endogene und exogene Einflüsse werden berücksichtigt und bewertet im Sinne einer multikausalen Erweiterung.
Es geht um folgende neurodegenerativen Erkrankungen mit Schwerpunkten auf Demenz, Epilepsie, Morbus Parkinson, HOPS, Schizophrenie und dem Tourettesyndrom. Ein weiterer Aspekt sind neurologische Erkrankungen, die primär genetischen Ursprungs sind oder bei denen dies vermutet wird, beispielsweise Chorea Huntington, um die Möglichkeiten einer Optimierung oder Rehabilitation durch ncRNA-Substitution zu diskutieren:
In der regenerativen Medizin der Zukunft werden molekulardiagnostische und molekulartherapeutische Verfahren immer wichtiger.
Auf Grundlage der hier diskutierten Modelle müssen bei degenerativen Erkrankungen des Nervensystems auf der zellphysiologischen Ebene alle proteinsynthetisierenden Vorgänge normalisiert werden. Aber auch gegen Nervenerkrankungen, die auf anderen bzw. unbekannten Ursachen beruhen, ist die Optimierung bzw. Aktivierung der Proteinbiosynthese eine Behandlungsoption.
Dabei ist gemäß den Modellen ein konzertierter Einsatz von sieben Kausalfaktoren entscheidend; aufgrund ihrer hohen Relevanz gilt das besonders für die proteinsynthesemodulierenden ncRNA, die zelltypspezifisch substituiert werden müssen.
Aufgrund der hohen Relevanz zelltypspezifischer ncRNA muss deren Anwendung auch in der medizinischen Rehabilitation schwerer neurologischer Erkrankungen zukünftig bedeutsam sein.
Zelltypspezifische ncRNA sind aber auch in der medizinischen Prophylaxe sinnvoll. Ziel dabei ist die Verminderung der Wahrscheinlichkeit eines Ausbruchs degenerativer neurologischer Erkrankungen oder zumindest dessen Verzögerung bei gefährdeten Personen, beispielsweise solchen, die aufgrund familiär-erblicher Faktoren ein höheres Erkrankungsrisiko in sich bergen.
Wenn man mit diesen Maßnahmen die steigende Zahl demenzieller und anderer degenerativer Nervenerkrankungen in Zukunft wesentlich reduzieren könnte und damit auch die Lebensqualität großer Bevölkerungsteile verbessert, ergäbe sich daraus auch eine Reduzierung der immensen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten derartiger Erkrankungen.
Politik, Forschung, Medizin und Industrie sollten sich damit ernsthaft auseinandersetzen, wollen sie ihrem Auftrag gerecht werden, zur Gesunderhaltung der Bevölkerung beizutragen.
In Kapitel 10 werden Strategien für eine breite Anwendung hier vorgestellter molekularer Verfahren und Substanzen diskutiert. Das betrifft vor allem folgende Bereiche bzw. Themen: